robert brack

die granate und die ewigkeit oder:
schiessen sie auf den schriftsteller!

Die Literatur wird verachtet, jedenfalls in Deutschland, sie wird verachtet, weil sie nichts mit der Welt zu tun hat, weil sie überflüssig ist und trotzdem großspurig tut. Der Staat, die (bürgerliche) Gesellschaft und ihre Kulturbüros haben der Literatur eine großzügig angelegte Spielwiese geschenkt. Darauf tummeln sich die Literaten in gepflegter Abgeschiedenheit und lassen in den (bürgerlichen) Publikationsorganen darüber berichten. Wenn einer eine weitere kryptische Möglichkeit gefunden hat, seine Beziehung zum Familienoberhaupt zu verarbeiten, seine Jugend in einem österreichischen Bergdorf Revue passieren zu lassen oder über die Funktion des Semikolons zu sinnieren - ihm werden Platz, Zeit und schlaue Gedanken geopfert. Doch jenseits des lahmen Klapperns der feuilletonistischen Gebetsmühlen findet dieses privatistische Geschreibsel keinen Widerhall. Die Kriminalliteratur wird geliebt, sogar in Deutschland, sie wird geliebt, weil sie Geschichten über die Welt erzählt, in der wir leben, weil sie wichtig ist und trotzdem nicht grossspurig tut. Die Kriminalliteratur wird von den Feuilletonisten aus dem gleichen Grund gehasst, aus dem sie von den Lesern geliebt wird: Sie hat sich jene soliden Gesetze des Geschichtenerzählens zu Eigen gemacht, die den "Literaten" ein Rätsel sind und die sie deshalb verabscheuen. Bekanntlich ist die Literatur ein relativ fragwürdiges Kulturgut. Geschriebene Worte haben einen bescheidenen Effekt auf den Gang der Welt, jedenfalls jenseits politischer Manifeste. Aber jeder Einzelne, jede irgendwie zustande gekommene Gruppe, jede größere soziale Formation brauchen Geschichten, in denen sie sich und ihren Standpunkt in der Welt erklären.

Seit das gesellschaftliche Zusammenleben kompliziert, unübersichtlich und nahezu vernunftslos geworden ist, hat das Geschichtenerzählen die Aufgabe übernommen, unserem geistigen Überlebenskampf in der Apokalypse des 20. Jahrhunderts eine Basis zu verschaffen. Der einzelne, die Gruppe, vielleicht sogar Teile der Gesellschaft versuchen, die wirre Welt zu ordnen, indem sie erzählen. Die sozialen Ordnungen im 20. Jahrhundert sind zuerst durchlöchert und dann gänzlich zerstört worden: den Konflikten, Kriegen und anderen Destruktionen auf der Ebene der Staaten und der gesamten Menschheit stehen die Auflösung sozialer Werte und Strukturen gegenüber.

"Nicht für die Bibliotheken,
sondern für die Leser
schreiben wir!"

Wie sich dieser Auflösungsprozess vollzieht, im Alltag bemerkbar macht und die Gesellschaft wie den Einzelnen in Bedrängnis bringt - das ist das Thema der Kriminalliteratur. Aus diesem Grund ist die Kriminalliteratur - sofern sie sich nicht als billige Spielerei im leeren Raum genügt - eine politische Literatur. Manche scheuen sich, in diesem Zusammenhang das Wort "politisch" zu benutzen: Ist denn die Kriminalliteratur nicht bloß eine simple Unterhaltungsware? Natürlich, aber gerade deshalb ist sie politisch. Die Kriminalschriftsteller schreiben - im Gegensatz zu ihren Kollegen, die sich selbst kultische Opfer darbringen, immer im Bewusstsein des Marktes. Ihre Bücher werden zu einem großen Teil in Kaufhäusern, Supermärkten und an Kiosken verkauft. Ihre billige Aufmachung entspricht ihrer Stellung: Nicht für die Bibliotheken, sondern für die Leser schreiben wir! Wir leben in einer Welt der schäbigen Deals, wir schreiben darüber, ohne das Material mit scheinheiligen Verrenkungen sprachlich zu "veredeln". Wir geraten nicht in Verzückung beim Dialogisieren mit "der Sprache selbst" oder ähnlichen Sperenzien, sondern wir arbeiten an Geschichten, die etwas mit unserer Umgebung zu tun haben.

Selbst wenn man der Kriminalliteratur den Status "politisch" verweigern wollte - in jedem Fall handelt es sich bei diesem Genre um eine "soziale Literatur". Es geht ihr immer darum, mit erzählerischen Techniken soziale Strukturen zu erforschen. Sie interessiert sich für die Welt "da draußen". Der Kriminalschriftsteller bringt mehr Interesse für die anderen und ihre Beweggründe auf als für sich selbst. (Er ist auch bloß Schriftsteller, was ist das schon?) Sogar dann, wenn er einmal über sich selbst schreiben sollte, tut er dies mit größtmöglicher Distanz, denn er unterscheidet sich in seinen Leidenschaften und Gedanken nicht wesentlich von seinen Mitmenschen (und im Gegensatz zu den esoterischen Wortkunstschnitzem ist er sogar stolz darauf). In einer Kriminalgeschichte geht es immer darum, Zusammenhänge klarer zu machen. Am deutlichsten geschieht dies im Polit-Thriller: In den Büchern von Eric Ambler, Ross Thomas und Jean-Patrick Manchette wird einem mehr über die Funktionsweise politischer Institutionen und die dort tätigen Menschen erklärt als in hundert Fernsehfeatures, Reportagen oder Hintergrundberichten.

Es heißt oft genug, die Zeit der politischen oder sozialen Literatur sei vorbei, denn jetzt leben wir in der schönen neuen Medienwelt, wo uns alle Ereignisse der Weltgeschichte im Minutentakt um die Ohren geschlagen werden. Stimmt schon, aber hat mal jemand genauer hingesehen oder hingehört? Was sind das für Informationen, die über den langen Tag gestreckt in endlosen Wiederholungsschleifen dargeboten werden? Alles nur Oberfläche, Verlautbarungen, Vermutungen, inszenierte Halbwahrheiten, geschickt platzierte Lügen, taktische Fehlinformationen usw. Bis ein Tatbestand endlich geklärt ist, wurde er in ein Mosaik aus tausend Einzelheiten zersplittert. Und selbst wenn umfangreiche Analysen endlich alle Details zusammenfügen: Es bleibt immer nur ein lebloses Gerüst von Fakten übrig. Die Menschen in diesen Berichten sind immer nur Funktionsträger. Was einen Politiker antreibt, habe ich nicht einmal in der Berichterstattung über die Barschel-Affäre mitbekommen. Der Journalismus, den alle für den Wahrheitsbringer halten, inszeniert die Wirklichkeit im Häppchenformat, weil er ein Sklave der Aktualität und ein Opfer seiner eigenen Selbstüberschätzung ist. Für Feinheiten und das wahre Drama hinter den Fakten bleibt keine Zeit. (Und wer hat es jemals fertig gebracht, auf dem Bildschirm sein wahres Gesicht zu zeigen?)

Wenn es das nur wäre. Aber jenseits der großen politischen und sozialen Themen gibt es den Alltag, in dem sich die Inidividuen abstrampeln. Wer bloß Polit-Thriller schreiben will, in denen die Mächtigen so agieren, wie simple Gemüter es sich vorstellen, kann sich gleich zum Journalismus abmelden. Es geht in der Kriminalliteratur um mehr: Es geht darum, zu zeigen, was mit ganz bestimmten normalen Menschen passiert, die in eine für sie unnormale gefährliche Situation geraten. Wie reagiert jemand, der durch Androhung von physischer oder psychischer Gewalt an den Rand der Verzweiflung getrieben wird? Wie verhält sich einer, der so verzweifelt ist, dass er sich nur noch durch eine gewaltsame Aktion oder eine hastig eingefädelte Intrige Rettung erhoffen kann? Das sind nur die billigsten Ausgangsfragen für eine Kriminalgeschichte, aber es geht immer darum, aufzuzeigen, wo die feinen Risse auftreten in jenen dünnen Gipswänden alltäglicher Rituale, mit denen wir uns im privaten, im sozialen oder politischen Alltag umgeben haben. Also auch darum, das, was wir "Wirklichkeit" nennen, zu relativieren.

"Alles Schöngeistige taugt 
nicht, um diese Welt am
Abgrund in den Griff
zu bekommen."

Während der feuilleton-orientierte Dichter tagelang darüber nachsinnt, welches Satzzeichen er ans Ende eines seichten Metaphernspiels setzen soll, hat der Kriminalschriftsteller schon wieder zwanzig Seiten geschrieben. Die Kriminalliteratur ist eine schnelle Literatur und deshalb aktuell. Eine Genre-Autor schreibt lieber fünf Bücher, um einen interessanten Sachverhalt von verschiedenen Seiten her unter die Lupe zu nehmen, als sich sieben Jahre und zehn Stipendien lang mit speziellen grammatikalischen Konstruktionen und der eigenen Stellung in der Literaturgeschichte zu beschäftigen. Das schult seine Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Entwicklungen und seine analytischen Fähigkeiten ebenso wie seine Erzähltechnik, denn sein Handwerkszeug für die Untersuchung der sozialen und politischen Zusammenhänge ist das Erzählen schlechthin. Die Sprache ist ein Teil jenes Instrumentariums. Der Kriminalschriftsteller benutzt die Sprache, er lässt sich nicht von ihr ins Bockshorn jagen, er weiß, dass die Sprache selbst Macht über Gedanken ausüben kann. Doch je bewusster und respektloser er sie benutzt, je mehr er von ihrer aktuellen, wandlungsfähigen Lebendigkeit in sein Schreiben übernimmt, um so weniger wird er zum Sklaven dieses Instruments.

Während sein bedächtig nach innen horchender Kollege sein billiges Glück in der Auseinandersetzung mit modrigen Mythen vergangener Jahrhunderte oder Jahrtausende findet, weiß der Kriminalschriftsteller, dass er in einem der stärksten mythologischen Zusammenhänge des 20. Jahrhunderts arbeitet: Die Mythologie des Kriminalgenres, in dem, angefangen beim Privatdetektiv, über den Polizisten bis zum Verbrecher ganz bestimmte Typen als zeichenbeladene Ikonen geschaffen wurden, die wiederum als populäre Mythen in das Alltagsbewusstsein eingegangen sind. Diese Mythologie birgt die Möglichkeit in sich, beim Erzählen kollektive Traumbilder mit der Alltagswelt zu konfrontieren. In dieser Konfrontation liegt eine kreative Spannung, die hilft, in unserer so banalen wie brutalen Endzeit-Epoche eine Überlebensposition zu finden.

Alles Schöngeistige taugt nicht, um diese Welt am Abgrund in den Griff zu bekommen. In einer Zeit, in der soziale Zusammenhänge und politische Strukturen sich auflösen, in der ökonomische und ökologische Zerfallserscheinungen übermächtig werden und der Einzelne kaum noch weiß, ob er ein Individuum oder ein Homunkulus ist, disqualifizieren sich jedwede ästhetizistischen Spielereien und pseudotiefsinnigen Selbstbespiegelungen von allein. Die Literatur sollte genau so elend, schäbig, unvollkommen und sensationsheischend oder auch virtuos, phantasievoll, ausgeklügelt und außergewöhnlich sein wie die Themen, die der Autor sich aussucht. In jedem Fall aber spannend, fesselnd, ergreifend. Der Kriminalschriftsteller schreibt seine Geschichten in dem Bewusstsein, dass jeden Tag eine Bombe durch das Fenster seines Arbeitszimmers fliegen könnte. Wenn der vergeistigte Poet eine Granate in die Dachkammer seines Elfenbeinturms fliegen hört, blickt er nicht auf. Im seligen Bewusstsein, für die Ewigkeit zu arbeiten, lässt er sich in die Luft sprengen. Der Kriminalschriftsteller besaß schon vorher den Ehrgeiz, herauszufinden, wer die Bombe werfen könnte: Er vermag sich sogar vorzustellen, dass er rechtzeitig genug Informationen zusammenbringt, um im entscheidenden Moment da zu sein, wo die Granate abgefeuert wird. Vielleicht sitzt er sogar hinter der Kanone und zielt auf den Elfenbeinturm.

erschienen in: "Konzepte, Magazin für eine junge Literatur", Nr. 14, 1993
und in: "Raymond Chandler Jahrbuch" Nr. 2, Passau 1997

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