Schneewittchens Sarg

leseprobe

Schneewittchens Sarg

Das Buch erschien im Februar 2007 in der Edition Nautilus.
Broschur 192 Seiten / ISBN 978-3-8941-540-4 / Euro (D) 12,90
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eins

Der ganze Stadtteil war eine Baustelle. Überall stöberten Bagger im Untergrund herum. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die erste Leiche ausgruben. Dass es ausgerechnet Schneewittchen war, die sie dann fanden, war erstaunlich, und für die Gegend, in der ich wohne und arbeite, nur eine von mehreren fatalen Entwicklungen.

Aber ich gebe schon wieder meiner schlechten Angewohnheit nach, das Letzte zuerst abzuhandeln. Ich will lieber der Reihenfolge nach berichten, sonst macht diese ganze verrückte Geschichte keinen Sinn.

Alles fing damit an, dass eine Fahne gehisst wurde - so könnte man beginnen. Oder auch: Es war einmal ein alter Peugeot, der seinen Geist aufgab - nein, das klingt alles sentimental. Gefühle, jedenfalls meine eigenen, spielen in diesem Zusammenhang keine wesentliche Rolle.

Bleiben wir also bei den Fakten: Es gab einen dumpfen Knall und der Motor ging aus. Ich schaffte es gerade noch, den Wagen von der Max-Brauer-Allee auf den Parkplatz vor dem Bahnhof Altona rollen zu lassen, bevor er stehen blieb.

Zwei Polizisten, die in ihren dunkelblauen Uniformen aussahen, als wollten sie im nicht weit entfernten Rathaus einen Staatsstreich inszenieren, schoben mich in eine Parkbucht und salutierten grinsend, als ich ausstieg.

"Vielen Dank, Kollegen", sagte ich.

"Sie mal an", sagte der Jüngere, "eine von uns."

"Nicht ganz", korrigierte ich.

Der Ältere musterte mich grinsend. "Welches Revier?"

"Ottensen."

Die beiden sahen sich an. In der Gegend gab es keine Wache.

"Privat."

"Ach", sagte der Jüngere enttäuscht.

"Kommen Sie doch zu uns", meinte sein Kollege mit einem Blick auf meinen leicht verbeulten und angerosteten Peugeot. "Dann können Sie sich einen besseren Wagen leisten."

"Wohin, in die Abteilung für Hochstapler?" wollte ich fragen. Aber im gleichen Moment begann eine Blaskapelle die dänische Nationalhymne zu spielen.

Die beiden Bullen drehten sich um und sagten gleichzeitig: "Scheiße, es geht schon los!" fassten nach ihren Gummiknüppeln und rannten davon. Ich schaute ihnen nach. Im Laufen nahmen sie die Knüppel vom Gürtel und fassten nach den Handschellen, die an ihren Hintern hin und her wippten.

Ich schloss die Tür ab und gab dem Peugeot einen aufmunternden Klaps. Er würde schon wieder auf die Räder kommen. Zu den schrägen Klängen der Blaskapelle gesellten sich dünne Stimmen, die einen mir unverständlichen Text sangen. Vermutlich ging es um den Heldenmut der Dänen oder die Schönheit ihrer Heimat. An einem Fahnenmast, den ich bis dahin noch nie bemerkt hatte, wurde eine Flagge hochgezogen, weißes Kreuz auf rotem Grund. Die Hymne wurde beendet, als die Fahne ganz oben angekommen war. Die Umstehenden riefen Bravo und wedelten mit kleinen Papierfähnchen. Es schien ihnen Spaß zu machen.

Ich nahm mir Zeit, meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen zu binden und ging dann hinüber, um mir das Ereignis aus der Nähe anzusehen.

Jetzt bemerkte ich auch die Einsatzfahrzeuge der Bereitschaftspolizei. Die Transporter standen hintereinander am Rand des Busbahnhofs, vor ihnen Beamte mit Helmen, Schilden und Schlagstöcken. Die beiden Bullen, die mir so nett geholfen hatten, waren gerade dabei zwei Männern, die hinter einem aufgebauten Redepult standen, die Arme auf den Rücken zu drehen.

"Nieder mit dem deutschen Terror! Altona skal vaere dansk!" riefen die Fähnchenschwenker. Die Bereitschaftsbullen rückten näher.

Der eine Mann, dem gerade die Hände auf den Rücken gedreht wurden, schrie laut: "Ich protestiere! Ich bin der dänische Vizekonsul! Lassen Sie mich sofort los!" Die beiden freundlichen Bullen sahen sich ratlos an. Der zweite Mann in ihrem Gewahrsam wandte sich wie ein Aal, schrie unverständliches Zeug und begann hysterisch zu lachen. Der jüngere Bulle versetzte ihm einen Schlag mit dem Knüppel auf den Hinterkopf, und er brach zusammen.

Wieder ertönte der Slogan: "Altona skal vaere dansk!"

Der angebliche Vizekonsul rief mit sich überschlagender Stimme: "Das wird ein Nachspiel haben!"

Es waren schätzungsweise doppelt so viele Polizisten wie Demonstranten da. Als ich mich umdreht, wurde mir klar, dass sie versuchten die Demonstranten einzukreisen. Einer von ihnen packte meinen Arm.

Das hätte er nicht tun sollen. Bevor er "hoppla" sagen konnte, lag er vor mir auf dem Boden. Er hatte mir die perfekte Ryote-Tori Angriffsstellung geliefert, und ich hatte sie ganz korrekt mit Shiho-Nage, dem Schwertwurf, beantwortet. Ich duckte mich unter einem erhobenen Knüppel durch und rannte Richtung Bahnhofshalle. "Sieh dich nie um, wenn du vor jemandem wegrennst, sonst kriegen sie dich!" hatte mein Vater mir schon in frühester Kindheit beigebracht. Er hatte viel Demo-Erfahrung gesammelt und war ein Meister im Weglaufen vor den Bullen gewesen. Also schaute ich mich nicht um, sondern nutzte die Situation zu einem Slalom-Sprint zwischen den Autos hindurch, die gerade auf die Verladerampe des Autoreisezugs zurollten.

Ich durchquerte die Bahnhofshalle und war so aufgedreht, dass ich einfach weiterrannte, durch die Fußgängerzone hindurch, über den Spritzenplatz, dann die teilweise aufgebaggerte Hauptstraße entlang, immer geradeaus, Richtung Büro. So kann man auch sein tägliches Jogging-Programm absolvieren.

Vor dem Zugang zu dem Fabrikgebäude, in dem ich einen Loft im vierten Stock bewohne, hatten sie eine tiefe Grube ausgehoben und die Bauzäune so aufgestellt, dass der Weg zwischen ihnen hindurch wie ein ausgeklügelter Irrgarten anmutete.

Vor der Tür angekommen, neben der normalerweise mein Peugeot geparkt ist, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, Geld in die Parkuhr am Bahnhof zu werfen. Nun ja, es war Gefahr im Verzug gewesen.

Ich suchte in meiner Jeanstasche nach dem Schlüssel und hörte hinter mir ein Räuspern.

"Hallo Lenina!"

Ich wirbelte herum und stand vor einem dünnen Kerl in Jeans-Anzug und Cowboy-Stiefeln. Er hatte lange, sehr graue Haare, einen ebenso grauen Vollbart und sein Gesicht sah, abgesehen von der Nickelbrille, so ähnlich aus wie das von dem Typ, dessen Porträt mein Vater früher über das Sofa gehängt hatte. Karl Marx. Ich hatte es neulich im Regal hinter den Büchern wieder gefunden und den Wechselrahmen dann genutzt, um ein Bild von Jacqueline du Prés aufzuhängen.

Ich schaute ihn ratlos an.

"Du kennst mich nicht mehr", stellte er fest.

"Anscheinend nicht", gab ich zu.

Er hielt mir die Hand hin. Sie war faltig und sehr behaart. "Ich bin Paul. Du hast sogar mal Onkel zu mir gesagt."

"Ach du Scheiße."

Er lachte freudlos und schaute sich um. "Wo ist denn der Peugeot? Ich seh dich doch immer damit rumfahren."

So ist das in diesem Viertel, in dem so viele Leute wie in einer Kleinstadt auf der Fläche eines Dorfes leben, man ist ständig unter Beobachtung.

"Motorschaden. Steht am Bahnhof."

"Ich kann dir einen guten Mechaniker empfehlen."

"Ich krieg das schon alleine hin."

Er hob entschuldigend die Hände. "Ich will mich gar nicht in dein Leben drängen, Lenina. Aber - " Er zögerte.

"Ich hab jetzt keine Zeit", sagte ich unwirsch und wandte mich ab.

" - ich hab einen Auftrag für dich."

Ich drehte mich wieder um.

"Du bist doch noch Detektivin?" fragte er.

"Um was geht’s denn?"

Er trat von einem Fuß auf den anderen. "Können wir das nicht oben besprechen?"

"Um was geht’s?" wiederholte ich.

Die Augen hinter seiner Nickelbrille zwinkerten nervös.

"Ich möchte, dass du Schneewittchens Sarg findest."

Ich starrte ihn an. Solche Witzbolde kamen gelegentlich vorbei. Machten, wie sie sich einbildeten, hochintelligente Scherze und wollten, dass man mitlachte.

Aber Paul lachte nicht. Er grinste nicht mal. Er sah eher so aus, als könnte er jeden Moment zu heulen anfangen.

"Du bist doch Detektivin?" fragte er noch mal und es klang schüchtern.

"Kommen Sie bitte mit." Ich drehte mich um, schloss die Tür auf und betrat das kahle Treppenhaus.

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