Unter dem Schatten des Todes

leseprobe

Unter dem Schatten des Todes

Das Buch erschien im Februar 2012 in der Edition Nautilus.
223 Seiten, 13,90 Euro, ISBN 978-3-89401-752-1







Kapitel 4

Das Wasser war schwärzer als der Himmel. Kurz vorm Morgengrauen kletterte Klara über eine Strickleiter vom Deck der Horizont 2 nach unten auf einen Fischkutter, der sich hob und senkte und manchmal bedrohlich weit vom Frachter entfernte. Dann klaffte unter ihr eine Lücke, in der kabbelige Wellen schäumten, und ein bisschen sah es aus, als wollte das Meer nach ihr schnappen. Lieber schaute sie angestrengt nach oben. Neben ihr wurden einige mit Flugblättern und Propagandabroschüren gefüllte Kisten und ihr Koffer herabgelassen. Der Motor der Seilwinde jaulte leise vor sich hin.
"Darf ich mal", sagte der Fischer, als sie unten ankam und schon wieder bedrohlich über dem kalten, bleckenden Wasser hing. Er packte sie an den Hüften und hob sie an Bord. Zwei andere zerrten die Kisten und den Koffer aus der Plane, die sofort wieder hochgezogen wurde.

Kutter und Frachter entfernten sich voneinander. Keine Abschiedsworte, keine Gesten.
Positionslichter waren zu sehen, Schattenrisse von größeren und kleineren Schiffen näher und weiter entfernt, die Silhouetten der Kräne im Überseehafen. Auf dem Deck des Kutters stapelten sich Kisten mit Fisch. Zwei Fischer waren damit beschäftigt, die Netze zusammenzulegen. Klara spürte das Klopfen des Motors unter den Sohlen.
"Runter in die Kombüse!" Der Fischer nahm den Koffer und stieg die steile Treppe hinab.
Ein enger Raum, in dem Herd, Geschirrschrank und ein Tisch mit Stühlen untergebracht war. Das Ofenrohr endete unterhalb einer offenen Luke. Kein Feuer im Herd. Es war eiskalt.
Der Steuermann hob den Koffer hoch. "Mehr hast du nicht?"
Klara schüttelte den Kopf.
"Dich sollen wir im Stadthafen abliefern. Wir sind spät dran." Er zog ein kleines Stück Pappe aus der Tasche. "Hier deine Fahrkarte. Wenn du den Zug nicht schaffst, nimmst du den nächsten. Wäre aber riskant. Die SA kontrolliert den Bahnhof. Die spielen jetzt Polizei. Hast du gute Papiere?"
Klara nickte.
"Ein bisschen auffällig, wie du so herumläufst."
"So sehe ich immer aus." Klara holte die Zigarettenschachtel aus der Manteltasche.
"In Berlin kannst du das machen, aber in Rostock fällst du auf."
"Ich hab noch was zum Umziehen im Koffer."
"Ist deine Sache, aber ..."
Sie steckte die Zigaretten wieder weg und stand auf. "Ich zieh mich um."
Der Fischer nickte und kletterte an Deck.
Klara holte den Tweedrock und die Wollstrümpfe aus dem Koffer. Dann die Brille, die sie nie trug, aus Eitelkeit, so ein rundes Ding mit schwarzem Rand, billig, hatte ihr ein Optiker in London aufgeschwatzt. Sie fand sich lächerlich damit, und viel besser konnte sie damit auch nicht sehen. Aus dem schmalen Spiegel über dem Ausguss schaute sie eine Person an, die sie entfernt an ein Mädchen erinnerte, das nie gerne Röcke getragen hatte und Wollstrümpfe schon gar nicht.
Der Fischer kam wieder runter. "Los jetzt. Wenn wir längs gehen, springst du auf die Schute. Wir halten nicht an. Den Koffer nehme ich und werfe ihn hinterher. Ein Genosse erwartet dich oben am Kai."
Klara folgte ihm an Deck.
Eine hohe Hafenmauer, der Kutter steuerte auf die Schute zu, Klara sprang und landete auf einem Haufen Kohle, der Koffer segelte durch die Luft und blieb neben ihr liegen. Sie packte ihn, schaute sich um, sah, wie der Kutter einen Bogen beschrieb und eilig verschwand. Der Schein einiger Laternen und die beginnende Dämmerung halfen ihr, sich zu orientieren. Eine eiserne Leiter führte nach oben. Aber wie klettert man hinauf mit einem Gepäckstück in der Hand?
Irgendwie ging es. Der Kopf eines jungen Kerls mit Pudelmütze tauchte auf, eine derbe Hand schnappte sich den Koffer. Als sie oben ankam, schnürte er den Koffer auf dem Gepäckträger fest. Klara rutschte auf der vereisten Kaimauer aus.
"Und du willst nach Berlin?", fragte er heiser.
"Wenn ich den Zug noch kriege."
"Dass du eine Frau bist, ist gut."
Na ja, dachte Klara, wie man's nimmt.
"Setz dich auf die Stange. Uns hält keiner an." Er lachte.
Er roch nach Alkohol und Zigarettenrauch. Ab und zu musste er die Füße von den Pedalen nehmen, wenn das Fahrrad ins Rutschen geriet, einmal wären sie beinahe auf den vereisten Untergrund gestürzt.
Sie fuhren an einem SA-Trupp vorbei, der Passanten anhielt.
"Die kontrollieren vor allem Leute, die vom Bahnhof zum Hafen gehen. Ich weiß nicht, wen sie eigentlich suchen. Wollen vielleicht nur zeigen, dass sie jetzt das Sagen haben." Er lachte abfällig. "Aber ich hab auch schon gesehen, wie sie jemanden mitgenommen haben."
Klara schwieg. Es war anstrengend genug, auf der Querstange die Balance zu halten. Sie hatte versäumt, die Handschuhe anzuziehen, die steckten in den Manteltaschen, und ihre Finger froren steif auf dem kalten Metall.
Vor dem Bahnhof noch mehr braune Uniformen. Sie überwachten die Eingänge. Ihr Begleiter fuhr Klara auf eine Reihe von Reisenden zu, die vor dem Betreten des Bahnhofs Ausweis und Fahrkarten zeigen mussten.
"He!", rief er atemlos. "Meine Cousine muss zum Zug, der fährt in zwei Minuten."
Klara sprang vom Rad, ihr Begleiter fiel beinahe herunter, fand das Gleichgewicht wieder und hob linkisch die Hand: "Heil Hitler."
Der SA-Führer musterte ihn kurz. "Wo will sie denn hin?"
"Berlin. Hat ne Stellung als Tippse in Aussicht."
Der SA-Mann blickte sie abschätzend an: "Und was ist in dem Koffer drin?"
"Was Schickes zum Anziehen in der Hauptstadt", sagte Klara keck.
"Na dann." Und ließ sie mit einer knappen Kopfbewegung passieren.
Klara drückte die Tür auf, ihr Begleiter schob das Fahrrad hinterher.
"He", rief der SA-Mann, "das Fahrrad bleibt draußen!"
"Leck mich am Arsch", murmelte Klaras Helfer und rannte mit dem Fahrrad weiter.

Am Bahnsteig kam eine riesige Dampflok zischend zum Stehen, Rauch und Dampfschwaden ausstoßend. Auf dem Nebengleis warfen die Schaffner die Türen des D-Zugs nach Berlin zu. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Koffer abgeschnallt war. Klara hastete die Waggons entlang ... erste Klasse, zweite Klasse, ... ein schriller Pfiff ertönte ... die großen roten Eisenräder der Lok drehten langsam durch, fassten Grund und der Zug setzte sich träge in Bewegung. Eine Tür schwang auf, Klara schob den Koffer voran, fasste mit Fingern, die kaum noch in der Lage waren, etwas festzuhalten, nach dem Griff und stieg hinauf. Jemand nahm den Koffer, schob ihn aus dem Weg und zog sie rein. Neben ihr winkten Hände durch die offene Tür und das Fenster. Dampfschwaden zogen vorbei, die Tür fiel zu.
Ein Herr im Ulster, mit einem Homburg und Handschuhen reichte ihr den Koffer. "Dritte Klasse linker Hand", sagte er.
"Ich hab Zweiter", murmelte Klara, mehr zu sich selbst.
"Bitte vielmals um Entschuldigung, bitte sehr." Er deutete in die andere Richtung.
Klara stolperte mit dem Koffer den Gang entlang und betrat ein Abteil, in dem noch drei freie Plätze waren. Wenig später saß der Mann im Ulster ihr gegenüber. Dann gesellte sich eine braune Uniform mit ausladendem Bauch dazu.
Es war kalt im Abteil, alle behielten die Mäntel an. Der Mann im Ulster redete gern, die braune Uniform nickte. Sie verstanden sich offenbar gut. Für Klara war das Geschwätz eine Tortur. Zudem fühlte sie sich unwohl in ihrem Tweedrock und den groben Strümpfen.

Der Ulster holte eine silberne Zigarettenschachtel aus der Manteltasche und bot jovial allen Anwesenden eine an. Alle lehnten ab, sogar der Uniformierte, nur Klara griff dankbar zu. Kurz stutzte sie. Lag es nur an ihren gefrorenen Händen oder hatte sie sich aus Nervosität innerlich so versteift, dass ihr der Gedanke an eine Zigarette gar nicht gekommen war? Sie sog den Rauch ein und merkte, dass ihr etwas Essentielles gefehlt hatte. Der Ulster stierte sie an. Ihr Erscheinungsbild und die Art, wie sie die Zigarette hielt, passten nicht zusammen. Sie bemühte sich, ungeschickt zu wirken, tat so, als müsste sie husten. Der Ulster grinste zufrieden.
Nach einigen Versuchen, den desinteressierten Anwesenden die Vorzüge deutschen Tabaks zu erklären, und nachdem er sich als national denkender Tabakwarenproduzent zu erkennen gegeben hatte, wandte er sich wieder an den Uniformierten. Er sah eine glorreiche Zukunft für Deutschland kommen, jetzt wo die "ordnenden Kräfte" Tritt gefasst hätten. Ein goldenes Zeitalter des Friedens und des Wohlstands werde anbrechen. Selbst wenn Hitler wolle, könne er keinen Krieg vom Zaun brechen, weil niemand mitmachen würde. "Und warum? Ich sage es ihnen: Wirtschaftsinteressen. Genau deswegen. Es ist nämlich nicht so, wie die Marxisten behaupten: Kapitalismus bringt keineswegs den Krieg, sondern den Frieden, nur so kann ich Geld verdienen. Bestes Beispiel: Unsere Beziehungen zu Russland. Die Bolschewisten predigen die Revolution und haben allerbeste Handelsbeziehungen zum deutschen Klassenfeind. Deshalb übrigens halten die Kommunisten ruhig. Hätten sie nicht allen Grund zum Aufstand? Die Partei verboten, die Führer verhaftet ... wo ist der angedrohte Generalstreik? Es gibt ihn nicht. Und warum? Weil Stalin die lukrativen Wirtschaftsbeziehungen nicht gefährden will!"

Klara bekam kaum noch Luft in dem stickigen Abteil. Sie stand auf und ging zur Toilette. Später rauchte sie noch eine Zigarette im Gang. Als sie zurück zum Abteil kam, schnarchten sie einträchtig, der Tabakwarenproduzent und der dickliche SA-Mann in seiner braunen Kluft, die ihn wie eine riesige Zigarre aussehen ließ. Die anderen Reisenden, die offenbar zusammengehörten, hatten ihr Frühstück herausgeholt. Der schwefelige Gestank von hart gekochten Eiern hing in der Luft. Klara blieb im Gang stehen.
Schließlich nahm sie ihren Koffer und wechselte den Wagen. Im Durchgang zwischen den Waggons wirbelten Schneeflocken. Bevor sie sich einen neuen Platz suchte, zog sie sich im Waschraum um. Am Fenster vor ihrem neuen Abteil schob sie die Hände in die Hosentaschen, die Manoli im Mundwinkel, die Schiebermütze auf dem Lockenkopf.
Was weißt du schon vom Generalstreik, Ulster, dachte sie abfällig. Den muss doch Stalin nicht befehlen. Da reicht dem Proleten ein knurrender Magen. Und den wird er auch weiterhin haben. Denn was die angeblich grandiosen Pläne deiner Nazis betrifft: Vielleicht werden sie die Produktion der Schuhsohlenfabriken ankurbeln, weil sie so schön marschieren können. Das war's dann aber auch.

Trotzdem versetzte es ihr einen Stich, als ihr auf der Hutablage im Abteil ein Exemplar des Börsen-Courier in die Hände fiel, in dem von einer "Reichstagsbrandverordnung" die Rede war, von einer "beispiellosen Verhaftungswelle und Hetzjagd gegen Kommunisten und Sozialdemokraten" und von der "Einrichtung von Lagern, in denen die Gegner der so genannten nationalen Revolution konzentriert werden".
Und dann tauchten im eiskalten morgendlichen Nebel des 1. März 1933 die vagen Umrisse der Randbezirke der Reichshauptstadt auf.

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