Die Toten von St. Pauli

leseprobe

Die Toten von St. Pauli

Das Buch erscheint am 12. Februar 2016 im Ullstein Verlag, 400 Seiten, 9,99 Euro









Es war ein elendes Drecksloch. In einer Gasse mit aufgerissenem Pflaster, mit tiefen Löchern in denen das modrige Wasser stand, gesäumt von windschiefen Fachwerkhäusern. Die Fassaden mit ihren krummen Balken und dem bröckelnden Putz neigten sich, als wollten sie einander zuflüstern, dass sie ihre dick bemoosten, löchrigen Dächer nicht mehr lange halten konnten. Aus dem Mauerwerk hing das feuchte Stroh, Türen und Fenster passten nur in den seltensten Fällen in ihre Öffnungen, oben am Giebel ragte der Dachbalken hervor wie ein Galgen.

Es roch nach Ratten und allen Arten von menschlichem Unrat. Häuser wie dieses gab es in den Gängen am Hafen viele. Gassen mit teilweise fehlendem Pflaster auch. Die Steine haben sie rausgerissen, um das morsche Mauerwerk auszubessern. Trotzdem sieht vieles hier aus, als könnte es jeden Moment zusammenbrechen. Er seufzte. Wann werden die Menschen, die hier hausen, endlich ein Leben bekommen, das diesen Namen verdient? Hoffnung, Sonne, genug zu essen? Diese armen Leute, die jetzt von den Polizeibeamten zurückgedrängt werden, die trotz ihres Elends vor Neugier platzen, weil hier etwas geschehen ist, das noch viel schlimmer ist als alles, was das Schicksal ihnen täglich zumutet.

Der uniformierte Beamte, der vor der offen stehenden Haustür Posten bezogen hatte, salutierte, als Kriminal-Oberwachtmeister Alfred Weber sich näherte. Die Tür sah aus, als hätten Tiere daran genagt und Würmer sich hineingefressen. Drinnen kein Licht. Offenbar hatten die Bewohner die Gas- und Stromrechnungen nicht bezahlt. Oder die Leitungen waren gar nicht bis hierher verlegt worden.

Das kalte Licht der frühmorgendlichen Sonne drang durch die schmutzigen gewellten Fensterscheiben. "Hier entlang." Ein zweiter Beamter hob eine Ölfunzel hoch und beleuchtete sein Gesicht, als wollte er selbst als Laterne dienen. Vor ihm eine offene Luke mit hölzernen Treppenstufen, die in den Keller führten. Unten ein Lichtschimmer, der sich bewegte und mal heller, mal dunkler wurde. Scharren von Stiefelsohlen auf trockenem Lehmboden, verhaltenes Murmeln.
Weber stellte vorsichtig einen Fuß auf die oberste Treppenstufe, dann den zweiten auf die nächste.
"Gehen Sie lieber rückwärts", sagte der Beamte mit der Lampe. "Es ist sehr steil."
Meinetwegen, dachte Weber. Es war auch besser so, da ein Geländer fehlte.
Kaum war er unten und hatte sich umgedreht, starrte er auch schon in das Gesicht des Kommissars, der ihn verkniffen und wie immer unzufrieden ansah.
"Weber? Was machen Sie denn hier?"
"Inspektor Kunath hat mich geschickt."
"Wozu?"
"Um mir ein Bild zu machen, Herr Kommissar."
Kommissar Recknagel zögerte kurz. Offenbar lag ihm eine despektierliche Bemerkung auf der Zunge. Dann schluckte er sie herunter und gab den Weg frei.
Ein Beamter der Kriminalpolizei, in der einen Hand eine Ölfunzel, in der anderen eine Taschenlampe, beleuchtete den Tatort, sein Kollege machte sich Notizen. Weber schaute sich um, während die Bewegungen der Männer ein unruhiges Schattenspiel auf die pockennarbigen Kellerwände warfen.

Es war ein sehr kleiner Keller, nur ein einziger quadratischer Raum, als Vorratsraum gedacht, aber Vorräte gab es keine. Nur ein paar zerschlagene Stühle, eine offene Kiste mit Sand, einen zerrissenen Pappkoffer sowie Eierkohlen in einer Ecke. Und inmitten dieses schwarzen Haufens etwas ganz Weißes. Der winzige schmale Körper eines Säuglings. Nackt. Mit einem sehr großen Kopf, wie es Weber erschien. Ein Würmchen, dachte er. Jetzt verstehe ich, warum man diese Winzlinge so nennt.
Ein kleiner Junge. Sehr mager. Eingefallene Wangen, klebrige Locken. Die Knochen unter der Haut waren zu sehen. Dünne Beinchen. Unwillkürlich griff Weber an seine Mütze, hielt inne, und tat dann so, als müsste er sie gerade ziehen. Das war immer so. Wenn er einen Toten sah, egal ob Mann, Frau oder Kind, verspürte er das Bedürfnis, die Mütze abzunehmen. Warum nur? Aus Ehrfurcht? Vor was denn? Vor dem Tod? Was war an dem zu fürchten? Weber schrak zusammen.
"Vermutlich Tod durch Ersticken!", polterte der Kommissar. "Keine deutlichen Spuren einer Gewaltanwendung."
"Könnte er nicht eines natürlichen Todes gestorben sein?"
"Warum sollte ihn dann jemand unter dem Kohlenhaufen verstecken?"
Der Beamte mit den Lampen beleuchtete jetzt den Kopf des Kindes. Weber schaute gebannt auf die dünnen Augenlider, die die sehr groß wirkenden Augen bedeckten. Ganz dünn und bläulich, wie ein einzelnes Blütenblatt einer zarten Rose, dachte er. Dann riss er sich zusammen und fragte: "Waren die Augen des Kindes geschlossen?"
"Selbstverständlich", schnarrte der Kommissar. "Es wurde nichts verändert, nur die Kohle etwas abgetragen."
"Er lag unter der Kohle?"
"Ganz drunter, sagt die Zeugin."
"Aber wieso ist er dann nicht schmutzig?", fragte Weber irritiert.
"Die Frau, die ihn gefunden hat, hat ihn gewaschen", sagte der Kommissar abfällig und deutete auf einen Blecheimer in dem ein Schwamm in schmutzigem Wasser schwamm. Der Beamte mit den Lampen leuchtete jetzt dort hin. Bei jeder seiner Bewegungen wurde das Schattenspiel an den Wänden wieder lebendig.
"Gewaschen?"
"Sie sagt, es sei über sie gekommen. Sie habe das Kind waschen müssen. Erst dann ist sie los und hat Alarm geschlagenen. Ein Bekannter ist mit ihr zur Revierwache gegangen."
"Es ist nicht das Kind der Frau?"
"Nein, die wäre zu alt dafür. Wir wissen nicht, wessen Kind es ist. Ich schätze es auf drei, vier Monate, aber heutzutage weiß man ja nie. Die Kinder bleiben klein bei dieser schlechten Ernährungslage."
Die Ernährungslage war nicht für alle schlecht, das sah man deutlich: Der Kommissar hatte einen Bauch.
"Die Frau wohnt hier im Haus?", fragte Weber.
"Ja. Zusammen mit ihrem Mann, der aber schon sehr früh zur Arbeit musste und noch nicht zurückgekehrt ist. Außerdem zwei Schlafgänger, die sich ein Bett im Obergeschoss teilen."
"Obergeschoss?"
"Der Dachboden. Da passen gerade mal ein Bett rein, ein Stuhl und eine Klamottenkiste. Wir haben uns das angeschaut. Der eine Schlafgänger lag betrunken im Bett. Wir haben ihn abführen lassen."
"Ist er ...?"
Der Kommissar machte eine abfällige Handbewegung. "Keine Ahnung. Wir müssen ihn befragen, wenn er wieder klar im Kopf ist." "Und die Frau? Kennt sie das Kind?"
Der Beamte mit den Lampen meldete sich zu Wort, nachdem der Kommissar ihn auffordernd angesehen hatte: "Sie behauptet nein. Es gäbe hier in den Gängen viele Kinder, sagte sie, da kenne man sich kaum aus, welcher Balg zu wem gehört. Und wenn sie so klein sind, sähe man sie ohnehin nicht, sagte sie. Niemand hier habe einen Kinderwagen, um die Säuglinge herumzufahren. Also blieben sie zu Hause in der Wiege, falls eine da sei."
"Seit wann liegt der Junge denn da?", fragte Weber.
Der Kommissar räusperte sich. "Die Frau behauptet, sie hätte bemerkt, wenn die Leiche schon gestern früh dagewesen wäre. Also müsste jemand den Jungen in der letzten Nacht dort abgelegt haben."
"War denn die Haustür nicht verschlossen?"
"Es wurde so oft eingebrochen, dass das Türschloss nicht mehr richtig funktioniert."
"Hat jemand etwas Verdächtiges bemerkt?"
Der Kommissar lachte abfällig. "Mein Gott, Weber! Alles, was in dieser Gegend geschieht, ist verdächtig."
Weber fühlte sich mit einem Mal überflüssig. Er wandte sich der Kellertreppe zu "Also dann ..."
Schwere Stiefel trampelten herunter. Ein massiger Mann in einem Tweedanzug, beladen mit diversen Apparaten, Lampen und Stativen taumelte in den Kellerraum. Er hatte eine Glatze und sein fleischiges Gesicht glänzte vor Schweiß. Gustav Hilbrecht, der Fotograf. "Morgen, Kollegen", sagte er, ohne jemanden direkt anzusehen, und begann die Stative hinzustellen. Weber trat in den Schatten und sah zu. Es dauerte eine Weile, bis alles aufgebaut war.

Dann blitzte es, und Weber kam es so vor, als würde jemand etwas Unerlaubtes tun, wie Schüsse abfeuern auf einen wehrlosen Körper, der so zart war, dass das gleißende Blitzlicht ihn verletzten könnte.
"Haben Sie eigentlich sonst nichts zu tun?", blaffte der Kommissar ihn von der Seite her an.
Weber zuckte zusammen, drehte sich um und stieg wortlos die Treppe hinauf. Der Tod, dachte er dabei, und wunderte sich selbst über seine Gedanken, ist eine Schweinerei des Schicksals. Aber ein gerade knospendes Leben zu zerstören, ist sogar in einer Welt ohne Gott eine Sünde.

Draußen in der freudlosen Gasse ging er an den Schaulustigen vorbei, die von den Polizisten zurückgehalten wurden, und blickte in ausgemergelte Gesichter, die trotz Hunger und Leids danach gierten, etwas Sensationelles zu begaffen, und sei es auch bloß ein Verbrechen.

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