Die Morde von St. Pauli

leseprobe

Die Morde von St. Pauli

Ullstein Verlag, 428 Seiten, 9,99 Euro









Erstes Kapitel
DIE MACHT DER FINSTERNIS

Der Tod kam mit dem Ruderboot, nicht auf einer Viermastbark, wie der alte Reeder es sich vielleicht gewünscht hätte. Das Boot glitt in dieser lauen Sommernacht des Jahres 1927 fast lautlos über den Kanal, denn der Eindringling verwendete einen Peekhaken statt eines Paddels, um keine Geräusche zu verursachen. Aufrecht stehend stach er mit der Stange in den Grund und trieb das Boot voran.

Er trug einen eng anliegenden, schwarzen Anzug und eine Maske, die den gesamten Kopf bedeckte und nur Öffnungen für Augen, Nase und Mund hatte.

Auch das Wasser war schwarz, wie der Himmel, denn es war eine Neumondnacht. Das Boot glitt den Leinpfadkanal entlang, bog nach rechts ab, fuhr unter einer kleinen Brücke hindurch und erreichte die Alster. Unter der Brücke hockte die dunkle Gestalt sich hin, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Nun ging es nach links, quer über die Alster, dorthin, wo der Fluss zum See wurde. Vom Wasser aus waren die Schattenrisse herrschaftlicher Villen zu sehen, deren Grundstücke bis ans Wasser reichten. Das größte Haus mit dem weitläufigsten Grundstück hob sich trotz der schwarzen Nacht hell schimmernd vom tiefdunklen Hintergrund ab. Es stand weiter oben auf einem Hügel, um den sich eine Rasenfläche bis zum Ufer ausdehnte. Der Eindringling steuerte zielstrebig die Anlegestelle am Ende des Grundstücks an, die aus unverwüstlichem Tropenholz gezimmert war, aber so gut wie nie benutzt wurde. Dort band er das Boot mit einem leicht zu lösenden Seemannsknoten fest und stieg mit einem großen Schritt auf den Anleger. Außer einem fingerdicken, langen Hanfseil, das er um den Körper geknotet hatte, trug er noch einige Einbrecherwerkzeuge und eine Taschenlampe bei sich, die mit Karabinerhaken am Gürtel befestigt waren, ebenso wie das Ledertäschchen, dessen Inhalt bald zum Einsatz kommen sollte. Die dunkle Gestalt lief über den Rasen auf das weiße Haus auf dem Hügel zu.
Auf der Rückseite der dreistöckigen Villa, die von einem achteckigen Turm gekrönt wurde, befand sich eine runde, von ionischen Säulen begrenzte Terrasse. Darüber dehnte sich ein großer Balkon mit barocker Brüstung aus. Hinter den hohen Fenstern im Erdgeschoss war kein Licht zu sehen, sie waren von innen mit schweren Läden aus Holz verbarrikadiert, die Fenster in der ersten Etage lagen im Dunkeln. Die Fenster des darüber liegenden Geschosses waren nicht mehr zu sehen, wenn man dicht vor dem Haus stand, da ein umlaufender zweiter Balkon sie verdeckte.

Der Einbrecher blieb kurz vor der Hauswand stehen, fasste dann mit der Hand in eine Mauerspalte, setzte einen Fuß in eine andere, zog sich hoch und kletterte, Fugen und Vorsprünge nutzend, die Fassade hinauf.
Ein kurzer Blick auf den Balkon, der ebenso kahl war wie die Veranda, und weiter ging's über Fensterbänke und Simse zur nächsten Etage und vom zweiten Balkon auf den Turm hinauf. Konzentriert und zügig und ohne das geringste Zögern. Die Falltür im Boden oben auf dem Turm war weder verschlossen noch von innen gesichert. Sie hochzuziehen erforderte nicht viel Kraft, aber sie knarrte leise. Ein Metallstab hielt sie offen. Unter der Tür befand sich eine steile Holztreppe.
Der Eindringling löste die Taschenlampe vom Gürtel, schaltete sie ein und leuchtete kurz nach unten. Er knipste sie wieder aus und ging mit flinken Schritten die Treppe hinunter. Das obere Turmzimmer wirkte wie die Brücke eines Schiffs: Ferngläser, Teleskope, Kladden und Bücher, eine Sternkarte und ein Stadtplan lagen herum, einige Stifte und nicht näher zu identifizierende Geräte. In das untere Turmzimmer gelangte man über eine schmale Steintreppe.
Eine Spindeltreppe führte von dort weiter hinab, und es gab eine Tür zur zweiten Etage. Sie ließ sich mit einem leise schabenden Geräusch öffnen. Dahinter ein Flur mit Teppich, zwei Lüstern unter der Decke, Bildern und Leuchtern an den Wänden. Die erste Tür führte zum Studierzimmer des alten Brunswiek, die zweite in sein Schlafzimmer.

In dieser Nacht war nur der alte Reeder im Haus. Der Gärtner, der auch als Chauffeur diente, wohnte über der separat gebauten Garage. Die Haushälterin kam erst um sieben Uhr, um das Frühstück vorzubereiten. Die dunkle Gestalt tastete nach der Ledertasche links am Gürtel, öffnete sie und zog ein Tuch und ein Fläschchen hervor.
Ein lautes Schnarchen war zu hören, aber der Einbrecher war wegen der Maske leicht schwerhörig. Er schätzte die Herkunft des Geräuschs falsch ein und schob die Tür zum Schlafzimmer auf. Das breite Bett unter dem riesigen Gemälde, das einen Brunswiekschen Viermaster zeigte, war zerwühlt, aber keiner lag darin.
Der Eindringling warf einen kurzen Blick in alle Ecken und verließ rückwärts das Schlafzimmer. Er trat vor die andere Tür und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Schweres Eichenholz. Die Scharniere quietschten leise, als die Tür einen Spaltbreit aufging. Er vernahm ein ungleichmäßiges Schnarchen. Die Tür wurde von etwas blockiert. Durch den Spalt war der Schreibtisch des Reeders zu sehen und er selbst auch. Mit seinem Gesicht mit dem weißen Backenbart à la Bismarck und der breiten, schweren Brust lag er auf dem Pult und machte ein Geräusch, als wollte er die dicke Tischplatte zersägen.

Die dunkle Gestalt drückte fester gegen die Tür. Sie nahm den rechten Fuß zu Hilfe, lehnte sich schließlich auch mit der Schulter dagegen. Und da ging es ... und es schepperte und klapperte und klöterte ... eine ganze Seehandelsflotte fiel um wie bei einem Dominoeffekt. Dreimaster, Viermaster, schnittige Klipper, breite Ewer und sogar zwei fette Dampfer kippten übereinander. Der alte Reeder schreckte hoch, seine Augenlider flatterten. Kündigte sich da schon wieder eine Handelskrise an, wollten die Alliierten sich ein weiteres Mal die Brunswiek-Flotte unter den Nagel reißen? Den Stolz der Reederei versenken? Waren es Kanonenboote? Piraten?
Er stemmte sich hoch und sah, wie ein Schatten sich näherte, dessen Umrisse ihn seltsamerweise an einen griechischen Adonis erinnerten. Der alte Reeder sprang auf, ballte die Fäuste, hob sie an, doch auf halbem Weg erwischte ihn etwas im Gesicht. Erst dachte er, ein Putzlumpen, dann spürte er einen eisigen Hauch, dann fühlte es sich an, als würde eine eklige Qualle an seinem Gesicht kleben. Er bekam keine Luft mehr. Etwas anderes strömte in seine Lunge, aber Luft war es nicht. Die Kräfte verließen ihn. Er kippte nach vorn, tastete instinktiv nach dem Messer, mit dem er eben noch ein nautisches Fachbuch aufgeschnitten hatte, verfehlte es aber. Dann wich alle Kraft aus ihm, und sein Kopf fiel auf die Tischplatte. Die scharfe Schneide des Messers ritzte seine Wange auf. Blut tropfte aus der Wunde.
Der Einbrecher hatte, als er nach vorne gesprungen war, die Miniaturflotte zertrampelt, die eben noch stolz den hölzernen Ozean des Studierzimmerfußbodens beherrscht hatte. Segelschiffe und Dampfer hatten Masten und Schornsteine verloren. Ein kleiner Ewer zerknackte jetzt unter den Fußsohlen des Eindringlings. Die Bastelarbeit vieler Jahre war zerstört.
Er achtete nicht weiter auf die zerbrochenen Schiffsmodelle. Er holte eine Rolle Leukoplast aus der Tasche, fesselte dem mit Chloroform betäubten Reeder die Hände auf dem Rücken und klebte ihm den Mund zu. Nach kurzem Zögern fixierte er auch noch die Fußgelenke des Alten an den Stuhlbeinen.
Anschließend wandte sich der Eindringling dem Tresor zu, der unter einem Gemälde mit vergoldetem Rahmen stand. Das Gemälde zeigte einen Brunswiek-Dampfer mit drei Schornsteinen im Hamburger Hafen vor der Silhouette des Kaispeichers A mit dem Zeitball auf dem Dach.

Der Einbrecher kniete sich vor den Panzerschrank und drehte an dem Kombinationsschloss, stellte eine bestimmte Zahlenfolge ein. Aber das Schloss spielte nicht mit. Er packte den Griff, zog, zerrte und rüttelte, aber die Stahltür blieb verschlossen. Weitere Versuche waren ebenfalls erfolglos.
Leise fluchend stand er auf und trat hinter den Schreibtisch. Er packte den alten Reeder und setzte ihn aufrecht in seinen Lehnstuhl. Der Kopf des Alten fiel zur Seite. Das Blut hatte den Backenbart an der rechten Wange rot verfärbt. Es tropfte auf seinen Hausmantel.
Die schwarze Gestalt holte eine Flasche Riechsalz aus ihrem Täschchen, schraubte sie auf und hielt sie dem Alten unter die Nase. Der riss die Augen auf und schaute den Eindringling störrisch an.
"Der Tresor, die Kombination!" Der Eindringling zog dem alten Brunswiek das Pflaster vom Mund, aber der weigerte sich zu sprechen. "Du willst also leiden?", schrie er ihn an und gab dem Alten eine Ohrfeige.
Brunswiek blieb verstockt.
Noch eine Ohrfeige. Drohen mit dem Messer. "Ich schneide dir die Finger ab."
Brunswiek schien das egal zu sein. Er war völlig apathisch, als hätte er mit dem Leben abgeschlossen.
Da griff der Einbrecher zum letzten Mittel. Er zog eine Bleistiftzeichnung aus der Ledertasche und hielt sie ins Licht der Tischlampe.
Auf dem detaillierten, realistischen Bild war eine Frau zu sehen, mit genau gezeichneten Gesichtszügen. Nackt, an einen Pfahl gekettet, stand sie auf einem Scheiterhaufen. Jemand hielt eine brennende Fackel an das Reisig.
Brunswieks Augen weiteten sich.
"Das werden wir mit ihr tun", blaffte ihn die schwarze Gestalt an. "Es sei denn, du sagst mir die Zahlen."
Brunswiek flüsterte die Kombination. Der Einbrecher drehte erneut am Schloss und zog die Stahltür des Tresors auf. Darin stapelten sich Papiere und Geldscheine, auch einige Goldbarren waren vorhanden.
Der Einbrecher zog einen Leinensack vom Gürtel. Papiere, Geldscheine und Barren verschwanden darin.
Der Tresor war nun leer.
Der Einbrecher drehte sich um und schaute nach dem Reeder. Der Kopf des Alten war zurückgefallen, sein Mund stand weit offen, die Augen starrten zur Decke.

Der Eindringling beugte sich über den Alten, horchte, ob er noch atmete. Fühlt den Puls am Hals. Nichts.
Er wandte sich ab, griff nach dem Sack mit der Beute und warf ihn über die Schulter. Er drehte sich wieder um und starrte den Toten nachdenklich an.
Das Blut tropft noch aus dem Backenbart. "Gut, sehr gut", sagte der Einbrecher schließlich, hob das rechte Bein und versetzte dem Stuhl einen so starken Tritt, dass er umkippte.

Jetzt lag der tote Reeder auf dem Boden vor seiner havarierten Flotte.
Die schwarze Gestalt verließ das Studierzimmer, öffnete ein Fenster am Ende des Flurs, stieg auf den Sims und kletterte flink am Regenrohr nach unten. Die Strecke bis zum Ufer legte sie im Laufschritt zurück. Dort angekommen warf sie den Sack ins Boot und griff nach dem Peekhaken.
Das Boot glitt über das schwarze Wasser davon. Die Umrisse der Gestalt verloren sich in der Neumondnacht.

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