eine dame taucht auf

biographie virginia doyle

Geburtsort und -datum liegen im Dunkeln. Tatsache ist jedoch, dass Ms. Virginia Doyle seit der Publikation ihres ersten Romans im Jahr 1999 nicht gealtert ist. Noch immer wird ihr Alter mit Mitte dreißig angegeben, und ihre Leser dürfen wohl davon ausgehen, dass Ms. Doyle wie ihr britischer Vorfahre Dorian Gray für immer jung bleibt. Nach den kargen offiziellen Angaben wurde Ms. Doyle mit mehreren Krimi-Preisen ausgezeichnet, was wohl etwas geschummelt ist, denn diese Preise wurden in Wahrheit dem Krimi-Autor Robert Brack verliehen.

rudern. illustration © www.herrhuber.com
Plausibler klingen da schon die Angaben zu ihrem beruflichen Werdegang: Virginia Doyles Lehrzeit in einem Hotel an der Côte d'Azur und die anschließende Ausbildung zur Sommelière in einem Londoner Restaurant finden zweifellos ihren Niederschlag in ihrem Werk. Zu beginn ihrer schriftstellerischen Karriere lebte sie in dem schmucken Städtchen Maidstone in der Grafschaft Kent, die auch als der "Garten Englands" gilt. Dort hat sie sich zunächst der Corgi-Zucht verschrieben, bevor sie mit dem Schreiben begann, das dann zur Obsession wurde. Immerhin gehen mittlerweile über ein Dutzend Publikationen auf ihr Konto.

Möglich wäre, dass Ms. Doyle verheiratet ist. Dass sie Kinder hat, scheint angesichts ihrer Produktivität wenig wahrscheinlich. Da Ms. Doyle sich in ihrem Werk intensiv mit der Geschichte Hamburgs beschäftigt, vermuten nicht wenige, dass die Autorin sich ab einem bestimmten Zeitpunkt emotional eng mit der Hansestadt verbunden fühlte.

Zunächst war Virginia Doyles Werk unübersehbar von frankophilen Tendenzen bestimmt. Ihr erster Roman, "Die schwarze Nonne", spielt zwar in ihrer heimatlichen Grafschaft Kent und erzählt von einer eigenartigen Mordserie im Landhaus eines Lords - Hauptfigur dieses wie der folgenden sechs Romane ist jedoch ein Franzose, der an der Côte d'Azur aufgewachsene Jacques Pistoux, ein gleichermaßen begnadeter Koch wie Hobbydetektiv.

"Die schwarze Nonne" (1876) ist erzählerisch eindeutig als Holmes-Watson-Geschichte konzipiert, wobei der Watson-Part hier von einem geheimnisvollen Küchenjungen übernommen wird.

Im zweiten Pistoux-Roman "Kreuzfahrt ohne Wiederkehr" (1877) greift die Autorin dann auf stilistische Merkmale eines Wilkie Collins zurück, benutzt verschiedene Erzählperspektiven sowie Tagebuch-Notizen und Fragmente eines Brief-Romans, um eine Mordserie auf einem von amerikanischen Touristen gecharterten Kreuzfahrt-Dampfer in Szene zu setzen.

Das folgende Buch, "Das Blut des Sizilianers" (1878), schließt zeitlich direkt an: Pistoux berichtet in der ersten Person von seiner Rettung durch sizilianische Fischer, um dann ein Mafia-Abenteuer in bester Robert Louis Stevenson-Manier zu bestehen.

Ein Jahr später, in "Tod im Einspänner" (1879) hat Pistoux Gelegenheit, seine zarte Beute, die österreichische Adelige Charlotte Sophie, nach Wien zurück zu bringen. Doch Undank ist der Mühe Lohn und Pistoux muss sich als Kaffeehaus-Kellner verdingen, bis er des Mordes an dem Dichterfürsten Friedrich Berg angeklagt wird. Dem Thema entsprechend ist dieser aus wechselnden Perspektiven geschriebene Gesellschafts- und Schauerroman eine Übung im gewitzten Kolportagestil eines Leo Perutz.

Einem weiteren großen Autor der deutschsprachigen Trivialliteratur erweist Frau Doyle im folgenden Roman ihre Referenz: "Die Burg der Geier" (1880) ist ein rasanter Reise- und Abenteuerroman, beinahe schon in Western-Manier abgefasst, ganz im Stil eines Karl May. Das Buch beschreibt das mörderische Schicksal einer Reisegesellschaft im Elsass, die gezwungen ist, in einer verlassenen Burg Schutz zu suchen.

"Das giftige Herz" (1881) wiederum, und da bot es sich thematisch natürlich an, ist der bescheidene Versuch, sich von Charles Dickens beeinflussen zu lassen. Im Mittelpunkt des Buches steht neben dem unverwüstlichen Amateurdetektiv Jacques Pistoux, der sich diesmal als Lebkuchenbäcker verdingen muss, eine Gruppe ausgestoßener, unterprivilegierter Kinder, die zwischen Burggraben und Christkindlesmarkt in eine Nürnberger Mordintrige geraten.

Der erfolgreichste Titel Roman der Jacques-Pistoux-Serie ist bislang "Das Totenschiff von Altona", ein Gesellschafts- und Kriminalroman aus dem Hamburg des Jahres 1882, deutlich inspiriert von den ironischen Werken eines Alexandre Dumas. Pistoux, der hier einen lukrativen Posten als Bankettchef im legendären "Hotel de l'Europe" bekommt, kann auch in diesem Abenteuer nicht von den Frauen lassen und gerät in den Bann von Henriette Godefries, Tochter eines reichen hanseatischen Reeders. Auf der im Hotel gegebenen Geburtstagsfeier der schönen jungen Frau kommt es zu einem Mord, und als wenig später ein Auswandererschiff mit zweihundert Leichen an Bord von der Flut in den Hafen zurückgetrieben wird, gerät die saubere hanseatische Ordnung ins Schlingern. Am Schluss dieses so leidenschaftlichen wie bedrohlichen Abenteuers findet sich Pistoux auf dem Deck eines Ozeandampfers wieder und nimmt Kurs auf die Neue Welt.

Zweifellos war "Das Totenschiff von Altona" eine neue Etappe im Schaffen von Virginia Doyle: Intensive Recherchen und das Vertrauen auf eine durch die Vorgängerromane gut geschulte Fabulierkunst ermöglichten ihr, in einem breit angelegten Panorama das Hamburg der damaligen Zeit in allen Facetten zu beschreiben.

Wie auch in den vorangegangenen Büchern schließt das Werk mit einem "Kochbuch des Jacques Pistoux" ab, in dem sämtliche erwähnten regionaltypischen Gerichte mit Rezepten zum Nachkochen aufgelistet sind. Kommt es in "Die schwarze Nonne" noch zu einem Duell der englischen und französischen Kochkünstler, ergänzen sich die Mittelmeerküchen Frankreichs und Spaniens in "Kreuzfahrt ohne Wiederkehr" auf das Angenehmste. "Das Blut des Sizilianers" präsentiert die von der Verschmelzung orientalischer und europäischer Elemente gekennzeichnete sizilianische Küche, während in "Tod im Einspänner" die typischen, unverwüstlichen Klassiker der Wiener Küche zelebriert werden. Deftige elsässische Spezialitäten in allen Ausprägungen machen "Die Burg der Geier" zu einem Genuss und Freunde des süßen Lebens können mit dem Anhang von "Das giftige Herz" ihre komplette Weihnachtsbäckerei bestreiten. Die hamburgische Bürgerküche sowie norddeutsche Spezialitäten prägen das Kochbuch an Ende von "Das Totenschiff von Altona". Hier finden sich auch zahlreiche Anspielungen auf die Grande Cuisine des berühmten Klassikers der Kochkunst, Auguste Escoffier.

Mit den Recherchen zu "Das Totenschiff von Altona" war die Liebe der Autorin zu der schönen Stadt an der Elbe geweckt. Ursprünglich sollte ihr Aufenthalt kürzer sein, aber Frau Doyle geriet in den Bann des berühmtesten Rotlicht-Viertels der Welt. Die große Zeit des Vergnügungsviertels vor der Zerstörung im 2. Weltkrieg hatte es ihr angetan. Die zwischen 1900 und 1945 angesiedelte "St. Pauli-Trilogie" wurde das ehrgeizigstes Projekt der Autorin. Für die aufwändige Recherche-Arbeit quartierte sie sich schließlich sogar auf St. Pauli ein. Vor Ort durchkämmte sie, mitunter in Männerkleidung, einschlägige Lokale, Straßen, Plätze und auch die berühmte Polizeiwache an der Davidstraße, suchte Archive und Bibliotheken auf und sammelte Material über eine längst untergegangene Welt.

Es entstanden drei umfangreichen Romane, die das berühmte Hamburger Vergnügungsviertel zu seiner Hochzeit porträtieren. Zentrale Figur der Trilogie ist Heinrich Hansen, der nach sechs Jahren auf See nach Hamburg zurückkommt, um auf dem Kiez, wo er einst aufwuchs, Polizist zu werden. Der erste Band der St. Pauli-Trilogie trägt den Titel "Die rote Katze" und erschien im März 2004. Der zweite Band, "Der gestreifte Affe", erschien im März 2005. Mit dem Erscheinen des dritten Bandes, "Die schwarze Schlange", im März 2006 war die Trilogie komplett.

Die Autorin selbst sagte dazu: "Mir geht es nicht nur darum, Kriminalgeschichten vor historischer Kulisse ablaufen zu lassen. Ziel meiner St. Pauli-Trilogie ist es, eine untergegangene Welt wieder aufleben zu lassen. Die Gegend um die Reeperbahn war damals ja kein Rotlichtbezirk, sondern ein Vergnügungsviertel für Jedermann, vom Arbeiter bis zum Großbürger. In drei Büchern soll der Wandel des Viertels zwischen den Jahren 1900 und 1945 dokumentiert werden und den Menschen, die es prägten, ein Denkmal gesetzt werden."

Ein Nebenprodukt von Virginia Doyles Recherchen zum Thema St. Pauli ist die bereits erschienene Erzählung "Mord im Star-Club", ein kleines Porträt des Hamburger Kiezes der Nachkriegszeit und eine Hommage an das legendäre Lokal, in dem die Beatles ihre Karriere starteten.

Nach getaner Arbeit und großer Resonanz im In- und Ausland wollte Frau Doyle eigentlich zurück ins heimische Maidstone, um sich wieder ihren Corgis zu widmen. Dann aber packte sie erneut der Tatendrang und sie entschloss sich, eine Recherchereise für einen neuen Roman mit ihrem alten Helden Jacques Pistoux anzutreten. Zunächst ging es nach New York und anschließend ins sagenhafte Land Armorika. Im Anschluss an die Reise entstand in ihrem Domizil auf St. Pauli der achte Pistoux-Roman "Der Fluch der schönen Insel", der 2008 veröffentlicht wurde.

Dann kam es zu Turbulenzen. Nach Meinungsverschiedenenheiten innerhalb des Gangsterbüros (siehe "unter uns 4") verließ Virginia Doyle im gleichen Jahr die Hansestadt und ging nach England zurück. Sie hinterließ ein Manuskript, das in einer Schublade ihres ansonsten geleerten Schreibtischs sehr auffällig "vergessen" worden war. Es handelte sich um den "vierten Teil" der St. Pauli-Trilogie. Das Manuskript trug ursprünglich den Titel "San Diavolo". Das Gangsterbüro bot es dem Heyne Verlag an, der es im Sommer 2010 unter dem Titel "Die Ehre der Nicolosi" veröffentlichte. Der Roman breitet ein erstaunliches Insiderwissen über die kriminelle Kiezgeschichte der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre aus. Manche Doyle-Experten verstiegen sich nach der Lektüre zu der Vermutung, die Autorin habe St. Pauli aufgrund bestimmter persönlicher Verwicklungen in das einschlägige Milieu verlassen müssen und der Eklat im Gangsterbüro sei nur ein vorgeschobener Anlass gewesen.

Wie dem auch sei, Virginia Doyle bleibt verschwunden. Ihr genauer Wohnsitz ist nicht bekannt. Auf E-Mails antwortet sie nicht. Die hastige Flucht und das gänzliche Verstummen lassen auf eine Lebenskrise schließen. Möglicherweise arbeitet sie wieder in ihrem ursprünglichen Beruf. Ob sie jemals wieder einen Roman schreiben wird bleibt ungewiss.

In den Jahren 2013 und 2014 kam es zu einer vorsichtigen Annäherung an das Gangsterbüro. Anlass waren umfangreiche e-book-Veröffentlichungen der vergriffenen Doyle-Titel. Ein Gespräch darüber mündete in die Vereinbarung, dass Brack sich um die Verwertung der alten Rechte kümmert. Das kam vor allem den Jacques-Pistoux-Romanen zugute, die sich nach Veröffentlichung bei hey! publishing unter E-Book-Lesern großer Beliebtheit erfreuen.

Nun hätte ein Comeback folgen können. Aber Virginia Doyle hat sich anders entschieden: Sie verließ ihren Landsitz in Kent, um sich in ein buddhistisches Kloster in Südkorea zurückzuziehen. Kurz darauf meldete sich ein Londoner Anwaltsbüro beim Gangsterbüro und teilte Robert Brack mit, dass er von nun an völlig frei über die Verwertungsrechte der Doyle-Werke verfügen kann. Ausdrücklich bekam er von Doyle die Genehmigung die Heinrich-Hansen-Trilogie, an der er mitgearbeitet hatte, unter seinem Namen im E-Book-Format bei Ullstein Midnight neu zu veröffentlichen.

Ihre "neue innere Harmonie" lasse sie derartige weltliche Fragen nur noch ganz distanziert betrachten, teilte Frau Doyle dazu mit. Und schickte ein letztes Haiku aus dem "Tempel der Lotosblüte":

Nur leere Seiten
Ich klappe mein Buch jetzt zu
Alles vollendet

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