virginia doyle

böse augen

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Janka stieg aus dem Waggon dritter Klasse und taumelte, weil ihre beiden Koffer verschieden schwer waren. Ein alter Mann mit langem weißen Bart fing sie auf und murmelte: "Sachte, sachte Mädchen."

Sie hatte bis eben geschlafen und war noch völlig benommen.

"Wo sind wir?", fragte sie.

"Hamburg, Endstation", sagte der Alte.

"Hamburg?" Sie stellte die Koffer ab und blickte sich um. Jenseits des Bahndamms sah sie Wiesen und Felder. Auf der linken Seite erstreckte sich eine Siedlung. Sie bemerkte vereinzelte Türme und hohe Schornsteine.

"Hamburg habe ich mir viel größer vorgestellt."

Der alte Mann schüttelt den Kopf: "Wir sind an Hamburg vorbeigefahren. Dieses Stedl haben sie extra für uns gebaut."

Sie starrte ihn verständnislos an. "Ein Stedl?"

"Nicht nur für die Juden, für alle. Wer nach Amerika will, muss da durch."

"Was ist das?"

Er zuckte mit den Schultern: "Ein Lager. Die Schifffahrtsgesellschaft hat es gebaut. In der Stadt will man uns nicht haben. Sie denken, wir bringen ihnen Krankheiten."

Immer mehr Menschen stiegen aus den Waggons. Um sie herum wurde das Gedränge dichter. Frauen mit fransigen Kopftüchern in gestreiften langen Kleidern, manche in Wolljacken, manche in grauen oder schwarzen Mänteln, verschlafene Kinder in verschiedenartigen Trachten, bärtige Männer in schweren Stiefeln mit Fellmützen oder breitkrempigen Hüten, die Hände in den Jackentaschen vergraben, Pfeifen im Mund, sammelten sich auf dem Bahnhofsgelände, das eigentlich nur aus einem Bahndamm und einer Laternenreihe bestand.

Sie kamen aus Russland, aus der Ukraine, aus Polen, aus Georgien und vielen anderen Landstrichen. Ihr Ziel war die Neue Welt. Die meisten waren schon seit Wochen unterwegs. Die Auswandererhallen auf der Hamburger Elbinsel Veddel würden ihre letzte Station in Europa sein.

"Worauf warten wir denn noch?" Janka stieg auf ihre Koffer, um über die Köpfe der Menschen hinweg blicken zu können.

"Da." Der Alte deutete auf ein quadratisches Gebäude, das von einem hohen Turm gekrönt wurde. Vor dessen Eingang hatte sich eine Kapelle zusammengefunden, die nun auf die Neuankömmlinge zumarschierte. Die Blasinstrumente und Zimbeln blitzen golden im Schein der aufgehenden Sonne. Auf halbem Weg begannen sie zu spielen.

Janka lachte. "Musik? Für uns?" fragte sie verwundert.

"So scheint es", brummte der Alte.

Alle wandten ihre Gesichter jetzt der heranmarschierenden Kapelle zu. Einige Männer nahmen ihre Kinder auf die Schultern, um ihnen zu zeigen, woher die Musik kam.

Janka sah ein paar lachende Kindergesichter. Sie lächelte und drehte sich auf ihrem Koffer um die eigene Achse. War da nicht schon das Wasser zu sehen und sogar ein Dampfer, aus dessen Schornstein dünner Rauch quoll? Sie drehte sich weiter.

"Vorsicht Mädchen!", sagte der Alte. "Du wirst noch fallen."

Janka winkte einem kleinen Jungen zu, der über den Kopf seines Vaters hinwegschaute. Der Junge winkte zurück. Ihr Blick fiel auf einen Mann, der neben dem Jungen stand. Im Gegensatz zu den meisten anderen war er bürgerlich gekleidet, trug einen feinen Anzug unter seinem Mantel mit Pelzkragen. Janka starrte ihm jetzt direkt ins Gesicht. Es war schmal und länglich, mit spitzer Nase und schmallippigem Mund. Janka kannte dieses Gesicht. Sie taumelte, verlor das Gleichgewicht und stürzte.

Der Alte fing sie auf. "Hab ich es nicht gesagt?", brummte er mürrisch.

Janka blickte ihn entsetzt an, wollte ihm erzählen, wen sie da gerade gesehen hatte. Aber wie und was? Und warum sollte dieser fremde Alte sich dafür interessieren? Sie stand auf, reckte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen, spähte umher. Der Spitznasige war weg. Hatte sie ihn wirklich gesehen?

Jetzt kam Bewegung in die Menge. Uniformierte Beamte drängten die Menschen loszugehen, sich auf das Gebäude mit dem Turm zuzubewegen. Die Kapelle schwenkte um, führte die Masse an, die hinterher trabte wie eine Schafherde, dankbar, endlich eine Richtung zu haben.

Janka griff nach ihren Koffern und trabte mit. Sie verlor den alten Mann, bemerkte gelegentlich ein bekanntes Gesicht aus ihrem Waggon und wurde mit allen anderen ins Lager geschwemmt.

Es war eine regelrechte Stadt, und wer sie betreten wollte, musste ein strenges Ritual über sich ergehen lassen: Zuerst zog man sich aus, dann wurde man in einem kahlen, kalten Untersuchungsraum peinlich genau von einem Arzt untersucht. Anschließend wurden die Kleider und das Gepäck mit einem übelriechenden Mittel besprüht, um mögliche Krankheitserreger abzutöten.

Erst dann durfte man von der "unreinen" auf die "reine" Seite wechseln, wo man seinen Platz zugewiesen bekam. In Jankas Fall war das ein Bett zwischen vierzig anderen Betten in einem aus Backstein gebauten Pavillon zwischen zahlreichen anderen genau gleich aussehenden Gebäuden, zwischen denen eine breite, von kleinen Bäumen gesäumte Straße hindurch führte.

Erschöpft sank sie auf das saubere Laken und wurde wenig später von einer strengen Dame in hochgeschlossenem Kleid aufgescheucht und mit anderen nach draußen getrieben.

Das Mittagessen wurde früh serviert, in einem Speisesaal, wo man an weiß gedeckten langen Tischreihen auf Bänken saß. Im jüdischen Speisesaal gab es koscheres Essen, das hatte ihr eine der strengen Damen mitgeteilt. Sie saß zwischen zwei aus Polen stammenden Familien mit zahlreichen Kindern. Die Frauen drängten ihr eine Extraportion auf, weil sie höflich sein wollten. Die Familienoberhäupter brachen das Brot für sie mit. Sie hatte Hunger und aß dankbar, so viel sie kriegen konnte.

Nach dem Essen ging sie die Hauptstraße entlang und gelangte zu einer Grünanlage, wo sie sich auf einer Bank ausruhte. Gemessen an den tristen Dörfern ihrer Heimat war dies hier wirklich ein hübsches Städtchen. War es in Amerika noch heller, noch sauberer, noch ordentlicher?

Später gesellte sie sich zu den Frauen, die in der Halle des zentralen Gebäudes in einer endlos langen Reihe darauf warteten, zur augenärztlichen Untersuchung vorgelassen zu werden. Ohne diese Untersuchung, hatte ihr eine der strengen Damen erklärt, würde man sie nicht auf das Schiff nach Amerika lassen.

Völlig übermüdet stolperte sie wieder auf die Straße. In der Allee zwischen den Pavillons hatte sich eine weitere Menschenschlange gebildet: Hier warteten die Männer auf ihre Augenuntersuchung, bewacht von Uniformierten, die streng darauf achteten, dass keiner aus der Reihe tanzte.

Sie sah den alten Mann wieder. Er winkte ihr zu. Sie wollte hingehen, aber ein Beamter trat ihr in den Weg und schickte sie zurück.

Während sie die Allee entlang ging, musterte sie die endlose Reihe der wartenden Männer. Sie sah sie sich allesamt genau an, auch auf die Gefahr hin, ungehörig zu wirken.

Sie fand ihn, obwohl er von einem massigen Kosaken beinahe völlig verdeckt wurde. Der Spitznasige. Jetzt war sie sich ganz sicher, dass sie ihn kannte. Sie lief weiter, tat so, als hätte sie ihn nicht bemerkt. Drehte sich nochmal um und winkte dem alten Mann zu, der gar nicht mehr in ihre Richtung sah.

Da sie noch immer nicht in den Schlafsaal durfte, bummelte sie weiter die Straßen ab, um sich zu orientieren. Sie wusste ja nicht, wie lange sie hier noch bleiben würde. Wann sie auf welches Schiff gewiesen wurde, lag im Ermessen der uniformierten Beamten. Es konnte Tage oder auch Wochen dauern.

Sie entdeckte die beiden Unterkünfte für wohlhabende Auswanderer, die "Hotel Nord" und "Hotel Süd" genannt wurden. Wenig später warf sie einen Blick in den großen Speisesaal für die Christen, wo die Tische frisch gedeckt wurden. Frauen in Schürzen breiteten weiße Tücher aus und verteilten Teller und Besteck.

Auf der Promenade begegnete sie Gruppen von Männern und Frauen und ganzen Familien, die spazieren gingen und sich unterhielten. Hier gab es auch zwei Kirchen, eine evangelische und eine katholische, und eine Synagoge. Sie trat ein, setzte sich auf eine Bank, richtete ihren Blick auf die Thora und begann zu beten.

Sie verließ das Gotteshaus und spazierte wieder die Promenade entlang. Ihr wurde bewusst, warum sie sich trotz aller Ordnung und Sauberkeit unwohl fühlte. Dies war eine gut funktionierende Stadt, hier wurde für alle gesorgt, aber diese Stadt hatte einen Makel: Es war unmöglich, sie zu verlassen. Immer wieder bemerkte sie Mauern und Zäune, die den Weg nach draußen versperrten. Der Weg ins Land der Freiheit führte durch ein Gefängnis. Wie frei würde sie sich wohl in Amerika fühlen? Sie hatte keine Ahnung.

Nach dem Mittagessen fand sich eine größere Menschenmenge vor dem Musikpavillon ein, der sich zwischen dem großen Speisesaal und der Maschinenzentrale befand. Während die Kapelle auf dem Dach des Pavillons spielte, beobachtete sie, wie die Wohlhabenderen unter den Auswanderern in dem Geschäft für Reisebedarf ein und aus gingen, das sich im Erdgeschoss befand.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch er das Geschäft betrat. Sie sah ihn kommen und hineingehen und wartete geduldig vor der Tür, bis er wieder herauskommen würde. Es dauerte lange. Nun hatte er einen nagelneuen Koffer bei sich. Sie stellte sich vor, dass er ihn mit nützlichen Reiseutensilien gefüllt hatte. Er war nicht mehr allein, sondern unterhielt sich mit einem Mann, der noch teurer gekleidet war als er. Der Mann bot ihm eine Zigarre an. Der Spitznasige schüttelte den Kopf. Der andere zündete sich umständlich die Zigarre an.

Janka ging zu ihnen hin und zupfte den Spitznasigen am Ärmel.

"Können Sie mir sagen, wie spät es ist?" fragte sie ihn, ohne ihm direkt ins Gesicht zu blicken.

Der Spitznasige zog zerstreut eine goldene Uhr aus der Tasche seines Jacketts und las die Uhrzeit ab. Janka machte einen Knicks, drehte sich rasch um und rannte davon. Noch im Laufen begann sie zu schluchzen. Sie lief immer weiter, bis sie wieder bei der Grünanlage ankam, ließ sich auf eine Bank fallen und weinte.

Niemand der Vorbeiflanierenden kümmerte sich um sie. Weinen war in dieser Stadt an der Tagesordnung. Es gab genügend Gründe zu weinen: Alle hier hatten Hab und Gut hinter sich gelassen, Verwandte und Freunde verlassen, die Heimat verloren. Die meisten hatten beschwerliche Wege und schlimme Erniedrigungen hinter sich und eine ungewisse Zukunft vor sich, in einer neuen Welt, von der sie eigentlich überhaupt nichts wussten. Niemand hatte hier die Kraft, eine Fremde zu trösten, alle waren genügend mit sich selbst beschäftigt.

Der alte Mann tauchte wieder auf und setzte sich neben sie.

"Warum scharwenzelst du denn um den Spitznasigen herum?", fragte er.

Sie blickte ihn aus verheulten Augen an. Hatte sie sich so deutlich daneben benommen, dass es bemerkt worden war?

"Zweimal habe ich gesehen, wie du ihm schöne Augen gemacht hast", sagte der Alte.

Janka schüttelte den Kopf.

"Es ist nicht recht für so ein Mädchen wie dich. Schon gar nicht bei einem Stutzer wie dem da."

"Ich hab ihm keine schönen Augen gemacht", sagte Janka.

"Ha", sagte der Alte.

"Böse Augen", sagte Janka. "Ich hab ihm böse Augen gemacht."

Der Alte sah sie verblüfft an.

"Wegen diesem Mann", sagte Janka, "bin ich hier."

"Sag ich ja", meinte der Alte. "Du bist ihm gefolgt. Machst ihm schöne Augen."

Janka schüttelte den Kopf.

"Er hat eine goldene Uhr", sagte sie.

"Und das macht ihn zu einem guten Menschen?"

"Nein, zu einem bösen. Es ist die Uhr meines Vaters."

Der Alte kniff die Augen zusammen: "Erzähl!", forderte er sie auf.

"Ich wäre mit meiner Mutter aus dem Dorf weggegangen, aber sie ist kurz vor der Abfahrt gestorben. Aus Kummer. Deshalb musste ich ganz allein auf die Reise gehen. Ich habe es ihr versprochen. Sie wollte nicht, dass ich dort bleibe, wo das Leben für uns Juden immer schwieriger wurde. Erst haben sie uns entrechtet, uns verboten unserer Arbeit nachzugehen, dann haben sie versucht, uns unser weniges Hab und Gut zu nehmen und schließlich begannen sie, uns nach dem Leben zu trachten."

"Das ist das Schicksal von vielen von uns. Deshalb haben wir uns auf den Weg nach Westen gemacht. Aber wolltest du nicht von der Uhr erzählen und von deinem Vater?"

"Viermal haben die Russen unser Dorf überfallen, seit ich denken kann, vier Mal!"

"Einmal wäre schon zu viel gewesen, Mädchen. Aber was hat das mit der Uhr, deinem Vater und dem Mann zu tun, dem du böse Augen machst?"

"Der Spitznasige gehörte zu ihnen. Beim vierten Mal war er dabei. Er war einer von denen, die am lautesten brüllten, die am härtesten zuschlugen und die am meisten mitnahmen. Als er mich packte und mitzerren wollte, trat mein Vater dazwischen. Auf diese Gelegenheit hatte der Spitznasige nur gewartet und schlug mit dem Knüppel auf ihn ein, bis Vater blutüberströmt am Boden lag. Wir haben ihn monatelang gepflegt, aber er ist uns weggestorben, ohne noch einmal die Augen zu öffnen."

Janka hielt inne und starrte vor sich hin.

"Die Uhr", sagte der Alte.

"Er hat sie ihm aus der Tasche gezogen und eingesteckt, als er regungslos dalag. Dann ist er weggegangen."

"Hat er dich wiedererkannt?"

"Ich glaube nicht. Wer weiß, wie viele Mädchen, Frauen und Männer er seitdem geschlagen hat."

"Aber wieso ist er jetzt hier?"

"Vielleicht will er da hin, wo die Juden hingehen, damit er immer genug zum Erschlagen hat."

Der Alte schüttelte den Kopf. "Es wird wohl eher so sein, dass er nicht nur Juden umgebracht hat. Er ist selbst zum Verfolgten geworden. Das ist es."

"Das genügt nicht", sagte Janka.

"Genügt nicht wofür?"

"Zur Sühne."

"Nein", sagte der Alte. "Das genügt wohl nicht."

"Ich will die Uhr wiederhaben", sagte Janka.

Der Alte stand auf: "Ich will mal versuchen, ob ich herausfinde, wie der Mann heißt."

"Nein", sagte Janka. "Ich will seinen Namen nicht wissen. Ich will die Uhr zurück haben."

"Gut", sagte der Alte. "Wir werden ihm die Uhr abnehmen. Aber bis es soweit ist, wirst du mich Onkelchen nennen."

Janka sah den Alten erstaunt an.

"Versuch es", forderte er sie auf.

"Ja, Onkelchen, aber warum soll ich das tun."

"Beachte ihn nicht mehr, tu etwas Unschuldiges, das dich ablenkt. Was immer dir einfällt. So lange, bis wir ihn in die Enge getrieben haben."

"Ich werde stricken", sagte Janka. "Ich hole mein Strickzeug aus dem Koffer und stricke."

"Gut."

Die Tage vergingen, und Janka strickte von morgens bis abends. Sie saß strickend auf einer der Bänke an der Promenade. Sie strickte und schaute auf den Flußarm hinaus, der am Lager vorbeifloss. Sie strickte im Aufenthaltsraum für die Juden, wo sie gelegentlich neben dem Alten saß, ohne viel mit ihm zu reden. Sie legte das Strickzeug nur kurz weg, wenn sie im Speisesaal Platz nahm, um zu essen, oder wenn sie sich im Schlafsaal mit den anderen hinlegte.

Der Alte freundete sich mit dem Spitznasigen an. Pfeife rauchend gingen sie zwischen den Pavillons auf und ab und erzählten sich Geschichten aus ihrem Leben oder spekulierten über Geschäfte, die sie in der neuen Welt zu machen gedachten. Sie wurden so vertraut miteinander, dass der Spitznasige den Alten sogar auf sein Zimmer im "Hotel Süd" einlud. Dort tranken sie Wodka.

Der Alte erzählte von seiner Nichte. Sie sei zwar schüchtern, aber durchaus willig, erklärte er dem Spitznasigen. Diesem gefiel es offensichtlich, das Mädchen in Verlegenheit zu bringen, wenn er es in Begleitung des Alten auf der Promenade traf. Janka vermied, ihm ins Gesicht zu sehen und presste das Strickzeug feste gegen die Brust wie einen Schutzschild, während der Fremde lächelnd das Wort an sie richtete und ihr Schmeicheleien sagte.

Schneller als erwartet kam der Tag der Formularausgabe. Janka und ihr "Onkel" halfen sich gegenseitig beim Ausfüllen der Papiere. Am nächsten Tag begaben sie sich gemeinsam in den Abfertigungsraum, wo an hohen Pulten Beamte mit Schirmmützen saßen, die Papiere entgegennahmen, prüften und schließlich die Dampfschiff-Fahrkarten aushändigten, auf die die Nummer des Schlafplatzes im Zwischendeck gedruckt war. "Mein Feld ist die Welt", stand als Motto der Schifffahrtsgesellschaft über der Eingangstür des Abfertigungsraums.

Am Abend vor dem Abfahrtstag wurden die jüdischen Auswanderer von drei Vertretern des "Israelitischen Unterstützungsvereins", dem nicht wenige ihre Fahrkarten in die Neue Welt verdankten, verabschiedet und mit moralischem Rüstzeug versehen. Anschließend gab es ein reichhaltiges Abendessen.

Am nächsten Morgen fanden sich Janka und ihr "Onkel" zu früher Stunde zusammen mit hunderten weiterer Zwischendeck-Passagiere auf dem Sammlungsplatz ein. Der Spitznasige war nirgends zu sehen, die Passagiere der höheren Klassen konnten sich ausschlafen und mussten erst später an Bord gehen. Bewacht von zahlreichen streng dreinblickenden Beamten drängten sie sich vor dem hohen Zaun und warteten darauf, dass die Tore geöffnet wurden.

Vorher jedoch musste das Gepäck auf bereitstehende Wagen gestapelt und abtransportiert werden. Dann wurde zum Abmarsch geblasen: Die Kapelle schmetterte einen flotten Marsch, und die Menschenmasse bewegte sich zunächst ungeordnet und träge, dann immer schneller und geradliniger die Straße entlang auf den Anleger zu.

In kleineren Gruppen wurden sie auf einen bereitliegenden kleinen Raddampfer gelotst und mit diesem Tender hinaus auf den Fluss gebracht, wo ein stählernes Monstrum auf sie wartete. Über eine glitschige Brücke stiegen sie vom Raddampfer direkt in den Bauch des Ozeanriesen, wo ihnen, aufgeteilt nach Männern und Frauen, die Schlafkojen im Zwischendeck zugewiesen wurden. Janka und der Alte vereinbarten, dass sie sich später an Deck treffen wollten.

Über endlose Stahltreppen und durch ein Gewirr von Gängen stieg Janka am Abend nach oben an Deck. Längst hatte sich das heftige Zittern des Dampfers in ein gleichmäßiges leises Wummern verwandelt. Das Schiff hatte den Hamburger Hafen verlassen erreichte bereits das offene Meer.

Im vorderen Teil des Schiffes war ein Bereich abgeteilt worden, in dem sich die Passagiere des Zwischendecks bewegen durften, wenn sie frische Luft schnappen wollten. Als es noch hell war, hatten sich hier viele Männer, Frauen und Kinder gedrängt. Nun, am späten Abend, waren sie in ihre Kojen verschwunden. Vom hinteren Deck der ersten und zweiten Klasse wehten gelegentlich Klänge eines Streichquartetts herüber, manchmal auch helles Lachen und Gläserklirren.

Der Alte stand über die Reling gebeugt und blickte nach unten in die Gischt. Sie trat zu ihm. Er richtete sich auf und nickte über ihren Kopf hinweg ins Dunkle.

Der Spitznasige trat aus dem Schatten.

"Da wären wir", sagte er.

"Ja", sagte der Alte, deutete auf Janka und fügte hinzu: "Und da ist sie."

"Fein", sagte der Spitznasige, griff in die Innentasche seines Mantels und zog einen Briefumschlag hervor. Er reichte ihn dem Alten, der ihn sofort aufriss und die Geldscheine durchzählte. Dann nickte er zufrieden.

"Du wirst jetzt mit ihm gehen", sagte er zu Janka.

Janka presste ihr Strickzeug gegen die Brust und nickte.

"Komm", sagte der Spitznasige, packte sie am Oberarm und zog sie mit sich.

Sie taumelte hinter ihm her. Der alte Mann lachte.

Der Spitznasige drängte Janka in eine dunkle Ecke und presste sich gegen sie.

"Jetzt gehörst du mir", sagte er. Er versuchte sie zu küssen. Janka wich ihm geschickt aus. Die Klinge des Stiletts bemerkte er erst, als sie schon tief in seine linke Herzkammer eingedrungen war und sein Herzschlag bereits aussetzte.

Seufzend glitt er an ihr herunter, würgte, zuckte ein wenig vor sich hin und blieb dann regungslos liegen.

Janka kniete sich neben ihn, drehte die Leiche auf den Rücken und nahm ihm die goldene Uhr ab. Der Alte kam dazu und durchsuchte den Toten, während Janka sich wieder aufrichtete. Er zog eine Brieftasche aus seinem Mantel und steckte sie ein.

"So", sagte er dann, "nun haben wir beide, was wir wollten."

Sie versicherten sich, dass niemand in der Nähe war, schleppten die Leiche zur Reling, hoben sie darüber und ließen sie in das schwarze Wasser der Nordsee fallen.

Janka warf ihr blutgetränktes Strickzeug hinterher.

"Mein Stilett hättest du mir ruhig wiedergeben können", brummte der Alte.

Dann gingen sie auseinander.

Sie sprachen nie mehr miteinander. Als Janka in New York auf Ellis Island an Land ging, sah sie ihn noch einmal wieder, nachdem sie alle Kontrollen passiert hatte. Er wurde von einem jungen Ehepaar und einer Horde Enkelkinder abgeholt.

Janka fragte einen Beamten in gebrochenem Englisch nach der Zeit und stellte ihre Uhr auf die Sekunde genau ein. Um drei Uhr und siebenundvierzig Minuten nachmittags, am achtundzwanzigsten September des Jahres Neunzehnhundertsieben begann ihr neues Leben in Amerika.

"Böse Augen", Copyright 2002 by Virginia Doyle, Hamburg

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