helmut ziegler

abenteuer in der grauzone

zu robert bracks polen-trilogie

"Noch ist Polen nicht verloren"

Der Kriminalroman, so hört man, hat sich in den letzten Jahren erstaunlich weiterentwickelt. Die Plots werden immer komplizierter, der Stil immer literarischer. Politische Themen rücken zunehmend in den Vordergrund, Realität, historische Fakten und Fiktion werden so verwirrend gemischt, dass Philip Marlowe durchaus nach Raymond Chandler suchen kann oder sogar Bertolt Brecht berät, wie er seine Aussagen vor dem Komitee für anti-amerikanische Umtriebe fassen soll. Keine Geschichte wirkt dabei lächerlich oder gestelzt.

Aber Polen?

Und dann schreibt darüber auch noch ein Autor aus der Bundesrepublik?

Tatsächlich ist Polen für die meisten Bundesbürger weiter entfernt als Los Angeles, Kenia, Bali oder andere beliebte Urlaubsziele. Und doch: Gerade nach Polen reiste der in Hamburg lebende Autor Robert Brack in den vergangenen sieben Jahren mehrfach. Geschah die erste Reise eher zufällig, aus privatem Anlass, so entstand daraus mit der Zeit die Faszination für die Unterschiede zwischen Ost und West. Wer in den letzten Wochen und Monaten in die DDR gefahren ist, kann diese Faszination ansatzweise nachvollziehen: Es ist alles genau wie im Westen der fünfziger Jahre und doch ganz anders, altbekannt und völlig fremd.

Diese Konfrontation findet sich in zugespitzter Form auch bei Jerzy Pakula, dem drittklassigen Buchhändler in Hamburgs zweitklassigem Vergnügungsviertel St. Georg und der Hauptfigur in Bracks Debütroman "Blauer Mohn" (rororo thriller Nr. 2886). Gezwungenermaßen reist er als polnischer Exilant, im Westen halbwegs heimisch geworden, wieder gen Osten, nach Polen. "Blauer Mohn" ist aber auch ein Reiseroman, in dem sich Pakula all jenen inzwischen fremd zu nennenden Orten annähert, die für ihn einst Heimat bedeuteten. Dass Polen, die den Roman gelesen haben, nicht glauben wollen, dass der Autor kein Landsmann sei, stellt nur eine der verschiedenen Qualitäten Bracks unter Beweis.

Denn "BlauerMohn" ist, und dies in erster Linie, ein Kriminalroman, dessen erzählerische Qualitäten mit denen von Eric Ambler verglichen worden sind. An den meisten solcher Vergleiche haftet etwas Abgeschmacktes. Wie jeder Pop-Musiker irgendwie in der Tradition der Beatles steht, wie sich jeder moderne Maler mit Yves Klein oder Andy Warhol auseinander gesetzt haben muss, so wird sich auch bei jedem Autor, der Thriller verfasst, ein Bezug zu Chandler, Hammett oder Ambler finden lassen. Aber bei Brack reicht der Bezug tiefer.

Wie bei Ambler sind auch Bracks Helden eigentlich Anti-Helden, die - zumeist ohne eigenes Verschulden - in den Treibsand der Realität geraten und desto sicherer untergehen, je heftiger sie sich abstrampeln und wehren. Wie Ambler ist auch Brack ein Chronist der tatsächlichen politischen Verhältnisse; die Bedrohung kommt nicht aus dem Nichts, sondern lässt sich schlicht und einfach aus den Politik-, Auslands- und Wirtschaftsmeldungen der Tagespresse herausfiltern. Wie bei Ambler beziehen auch die Romane von Brack ihre Spannung mehr aus dem diagnostischen Blick auf die Welt denn aus purer Action - wenn auch, für die Feinschmecker, immer noch genügend Häuser abbrennen, Fahrzeuge explodieren, Mädchen verschleppt und Männer erschossen werden. Wie Amblers lassen sich auch Bracks Werke im weitesten Sinn unter der Bezeichnung Polit-Thriller abspeichern.

Brack übrigens spielt mit dieser Verwandtschaft, wenn er etwa in "Blauer Mohn" Pakula einen Krimi mit dem Titel "Ich, sagte die Fliege" verkaufen lässt. Das Buch soll ein gewisser Charles Latimer geschrieben haben-  und Charles Latimer ist der federführende Charakter der Ambler-Romane "Die Maske des Dimitrios" und "Das Intercom-Komplott".

Dennoch unterscheiden sich Bracks Romane in weiten Teilen von denen Amblers. Während Ambler in fast jedem seiner achtzehn Romane ein neues Szenario entwirft, hält Brack seinen Personen die Treue, bindet sie sowohl zeitlich als auch örtlich in ein enges, beständig wiederkehrendes Geflecht ein. Dieser Seriencharakter ermöglicht es, den Figuren in ihrer Weiterentwicklung zu folgen, er ermöglicht es aber auch Brack, weiter in die Welt des demontierten Sozialismus einzudringen als je ein anderer Autor zuvor aus der BRD. Und wenn Ambler den Thriller als letzte literarische Zuflucht für die Auseinandersetzung von Gut und Böse und sich als einen Moralisten bezeichnet, dann definiert sich Brack eher als sentimentaler Zyniker, dem es mehr um den Kampf zwischen privater und vom Genre diktierter Mythologie geht, weniger um Moral. Amblers Credo lautet: "Ich versuche den Leuten zu erklären, wie es zugeht auf der Welt." Brack geht da einen Schritt weiter: "Kein Mensch will mehr wissen, wie es zugeht in der Welt, die wird einem täglich blutig um die Ohren geschlagen." Insofern verhält sich Brack zu Ambler wie der Realist zum Pädagogen.

Was sich natürlich durch Bracks Biographie erklärt. War er in seiner Jugend überzeugter Kommunist und später geläuterter Anarchosyndikalist, so bezeichnet er sich heute als "sozialistisches Fragezeichen". Sein Interesse am scheiternden real existierenden Sozialismus geht aber über die persönliche Ideologie hinaus: "Im Gegensatz zum Faschismus ist der Totalitarismus der Kommunisten aus einer ehrlichen Begeisterung für eine wirklich humane Idee erwachsen. Eben das ist das Tragische am Ostblock."

Als weiterer Gegensatz kommt noch hinzu, dass Ambler mit seiner Prosa häufig der Wirklichkeit einen Schritt voraus war. Er griff Themen und Schauplätze der Weltgeschichte auf, bevor sie in die Schlagzeilen kamen. Und den von ihm entworfenen "Topkapi"-Raub führten zahlreiche Einbrecher tatsächlich aus, beispielsweise in Köln (wobei Ambler immer auf seiner Unschuld beharrte). Im Gegensatz dazu scheinen Bracks Romane um die Situation im Polen der achtziger Jahre inzwischen durch die rasante Entwicklung im Osten von der Zeit überholt.

Scheinen, wohlgemerkt. In Wahrheit markiert Bracks Trilogie den Wendepunkt, von dem an im Osten das Zeitalter der Aufklärung zu Ende geht und das der Profitmaximierung beginnt; eine historische Zäsur also. Polen ist hier durchaus das geeignete Land, geeigneter als die allzu plakative, die BRD kopierende DDR. Exotischer, aber auch geschichtsträchtiger.

In chronologischer Hinsicht - die nicht in jedem Punkt identisch ist mit der Abfolge der drei Romane - beginnt alles im Herbst 1983. Drei Jahre zuvor hatte General Jaruzelski offiziell zur Bildung einer "Einheitsfront" aufgerufen, an der auch Vertreter von der Gewerkschaft Solidarnosc und der katholischen Kirche beteiligt sein sollten. Es war diese "große Offenheit", die es den beiden Hauptfiguren in "Die Spur des Raben" (rororo thriller Nr. 29o6) - Bandrowski und Kosak - ermöglichte, als Oppositionelle aktiv in der Polnischen Arbeiterpartei mitzuarbeiten. Doch schon im Dezember 1981 hatte sich die Hoffnung auf eine "nationale Einheit" verflüchtigt. Unter der Führung von Jaruzelski planten die Kommunisten den Ausnahmezustand, um die inneren Unruhen zu beseitigen, die aus dem faktischen Zusammenbruch der Wirtschaft und dem damit zusammenhängenden Mangel resultierten. Im Dezember 1982 wurde dann der Kriegszustand erklärt, alle Gebäude der Solidarnosc besetzt, Massenverhaftungen organisiert. Beim Sturm auf die Danziger Lenin-Werft wurden sogar Panzer eingesetzt. Der grundlegende Unterschied zwischen Bandrowski und Kosak bestand nun darin, dass Bandrowski als Wendehals in dieser Zeit Karriere machen konnte, während der zu seinen Prinzipien stehende Kosak unter Hausarrest gestellt wurde.

Nachdem man die Wirtschaft durch strikte Rationierung und jähe Preisschübe auf niedrigem Niveau stabilisiert hatte, wurde der Kriegszustand formell im Juli 1983 nach dem zweiten Papstbesuch beendet. Es folgte eine Amnestie für politische Gefangene, der Weg für eine Wiederaufnahme von politischen und wirtschaftlichen Kontakten mit dem Westen war frei. Um seine Regierungsgewalt nicht nur auf das Militär zu stützen, suchte Jaruzelski die Zusammenarbeit mit allen, auch quer denkenden Kräften. Dennoch bleibt die Position der beiden Kontrahenten gleich; Bandrowski ist inzwischen innerhalb des Parteiapparates mächtig genug, um Kosak weiterhin überwachen zu lassen, ihm Schlägertrupps auf den Hals zu hetzen und so zu verhindern, dass Kosak sein Wissen über Bandrowskis korrupten Werdegang veröffentlicht. Damit beginnt die Geschichte.

In ihr geht es, wie in jedem von Bracks Romanen, um die Wahrheit. Jedoch nicht um jene simple Aufklärung eines Whodunnit, wie es den klassischen Detektivroman auszeichnet. Auch nicht um die soziologische, die den Autonomen auf den Großkapitalisten treffen lässt, um beispielhaft einen gesellschaftlichen Konflikt aufzuzeigen, bei dem sich der Autor demonstrativ auf die richtige Seite des Guten und Wahren und Echten schlagen kann. Im wirklichen Leben treffen sich der Autonome und der Großkapitalist gar nicht. Und so gibt es bei Brack - wie im wirklichen Leben - keine richtige Seite mehr, sondern nur noch komplexe, verwaschene Grauzonen.

Zwar ist Kosak moralisch durchaus im Recht, wenn er Bandrowski mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verfolgt, da dieser einen florierenden Mädchenhandel aufgezogen hat. Allein: Diese Gewissheit bringt ihm wenig. Am Ende des Romans ist er tot, gestorben für Höheres, ohne dass sein Tod einen Sinn hat. Und seine einzige und große Liebe hatte er schon vorher verloren, ausgerechnet an Bandrowski.

Dabei nutzt Brack die gegenteiligen Charaktere, um in ausgefeilten Dialogen und gefühlsbetonten Monologen vorzuführen, wie viele gute - und weniger gute - Argumente es dafür gibt, die eigene schleichende Anpassung vor sich und anderen zu kaschieren. Er zeigt ebenfalls auf, dass der Glaube an Gerechtigkeit allemal langweiliger ist als ein Leben in Saus und Braus (auf wessen Kosten auch immer - wenn auch immer auf Kosten anderer). Er paraphrasiert eine alte Weisheit - "in der Jugend ist man Linksabweichler, im Alter Rechtsabweichler, dazwischen macht man Karriere" - und widerlegt sie gleichzeitig. Vor allem aber beweist er, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist; dass Heldentum und Feigheit Hand in Hand gehen, dass das Noble mit dem Niederträchtigen eine Einheit bildet, dass Widerborstige oft weinerlich sein müssen.

Am deutlichsten wird diese Dialektik in der Person des Major Kronstad. Kronstad ist - sieht man von dem Hund ab, der als running gag in jedem Buch auf dem Hamburger Steindamm einem Ball hinterherjagt - die einzige Figur, die in allen drei Romanen auftaucht und dabei zunehmend an Gewicht und Kontur gewinnt. Schon sein Name ist für Brack Programm.

Kronstad ist loyaler polnischer Miliz-Beamter, ein kommunistischer Apparatschik. Kronstad ist aber auch eine Petersburg vorgelagerte Insel und gleichzeitig der Stützpunkt der sowjetischen Marine, wo ein Aufstand anarchistischer Matrosen 1921 auf Trotzkis Befehl blutig zusammengeschossen wurde. Zudem entwickelt Kronstad, der in den frühen Zeiten seiner Karriere nicht zimperlich mit Mitarbeitern und Verdächtigen umgegangen ist, zunehmend Skrupel. Bediente er sich in "Blauer Mohn" noch typischer Einschüchterungsmaßnahmen der Miliz, so frisst in "Die Spur des Raben" bereits Alterssentimentalität an ihm. Er ist seine Rolle als kleiner, innerbetriebliche Verbesserungsvorschläge eineichender Kritiker leid, zumal sie seinen Aufstieg hemmt. Seine Gattin, eine fünfzehn Jahre jüngere habilitierte Sozialpsychologin, deren erklärtes Vorbild Margaret Thatcher ist, sorgt mit ihrer Lust am westlichen Lebensstandard für weitere Risse in seiner Dienstauffassung.

Obwoh seine Ehefrau die nationale Stimmung damit besser wiedergibt und die Kommunisten in Polen weithin verhasst sind, ist und bleibt Kronstad seiner Überzeugung treu. Denn er glaubt, dass der Kommunismus die einzige Alternative zum Kapitalismus ist und dass ohne die polnischen Kommunisten überhaupt kein Polen mehr existieren würde. Es war der erste Sekretär der Polnischen Arbeiterpartei, Wladyslaw Gomulka, der zwar die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen Polen und der Sowjetunion akzeptierte, gleichzeitig aber - und dies erfolgreich -  versuchte, einen selbständigen "polnischen Weg" zu beschreiten. Trotzdem ist Kronstad kein Heiliger. Es gehöt zu den subtilen Späßen von Robert Brack, dass er Kronstad bei seinem ersten Urlaub im "kapitalistischen Ausland" ein Fast-Verhältnis anhängt, zudem noch mit der Ehefrau eines kriminellen Schmugglers. So zerrissen zwischen Pflicht (gegenüber der Partei, der Angetrauten, der guten Sache überhaupt) und Lust (auf Genuss ohne Reue, auf Risiko, auf schlichtes Surplus) ist Kronstad die vielleicht sympathischste Figur, zugleich linientreu und aus der Reihe tanzend. Und im Gegensatz zu vielen anderen Polen ist er nicht auf die Vergangenheit fixiert, kein Spezialist der Erinnerung, sondern ein Überlebender der Gegenwart.

Dabei entzieht sich Brack jeder Wertung über seine Personen und deren Handeln. Es ist genau diese Neutralität, die ein exaktes Bild der Zustände in Polen entstehen lässt. Denn jeder seiner Romane stützt sich auf penible Recherche, nichts ist aus der Luft gegriffen. Der auf den ersten Blick etwas eigenartig anmutende Plot in "Blauer Mohn" entspringt ebenso der Realität wie der Mädchenhandel in "Die Spur des Raben", auch wenn der Gedanke, das minderwertige, in Polen produzierte Rauschgift in den Westen zu exportieren, absurd erscheint. Aber dass die Wirklichkeit ein guter Geschichtenerfinder ist, zeigen so bizarre Details wie der Süchtige, der in einer Wohnung einbetoniert wurde, nachdem er sich den goldenen Schuss gesetzt hatte. Auch hierfür kann  Robert Brack, im Nebenberuf Journalist, Quellen nennen. Und für die fiktive polnische Kolonie im brasilianischen Dschungel findet sich eine tatsächlich existierende pommersche Parallele.

Auch den Stamm seiner Personen entlehnt Brack dem Alltag. Dabei sind es keine dezidierten "Typen", die Brack erfindet, sondern Menschen aus jedermanns Umgebung. Nur muss man - etwa in St. Georg, wo weite Handlungsteile der Trilogie spielen - genau hinsehen, um zwischen Prostituierten, Alternativen und türkischen Gemüsehändlern auch jene Menschen zu entdecken, die Bracks Romane bevölkern. Zumal eine Voraussetzung für ihr Auftauchen ist, dass der Roman sie braucht. Denn Brack stellt jede Figur, ja: jeden Satz, in den Dienst der Erzählung.

So muss er sein Werk auch nicht mühsam literarisch verbrämen. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn man seine Polen-Trilogie und den ersten Roman seiner Serie um den Journalisten Tolonen, "Rechnung mit einer Unbekannten", (rororo thriller Nr. 2927), vergleicht. "Rechnung mit einer Unbekannten" spielt in Hamburg, der Medienhochburg, stellt einen abgewrackten und mit allen Wassern gewaschenen Yellow-Press-Schreiber in den Mittelpunkt, ist mithin schnell, witzig, hämisch, also unterhaltsam, und spart nicht mit Seitenhieben auf die Hamburger Journalistenszene.

Die Romane um Kronstad und Konsorten sind dagegen eher ruhig, die Geschichte entwickelt sich eher langsam. Beide Varianten haben ihre eigene Spannung. Aber während "Rechnung mit einer Unbekannten" - dem Sujet gemäß - auf lustvolles Entertainment zielt, ist die Trilogie auch Geschichtsschreibung.

Geschichtsschreibung einer endenden Epoche. Dabei sind der Schwarzmarkt mit dem Dollar als Leitwährung, lauwarm serviertes Essen in schäbigen Restaurants, vor dem Kollaps stehende Telefonleitungen oder der über ganz Polen stehende Katholizismus wichtiger als politische Deklarationen, genießen verlorene Ideale und der Wille zum Überleben Vorrang vor stromlinienförmiger Ideologie. Bracks Hauptfiguren sind fast alle Männer ohne Eigenschaften, die den Lauf der Welt nicht verändern können. Dass sie dennoch versuchen, sich zu behaupten, ist nur mit einer kleinen sentimentalen Anekdote zu erklären. Bei seinem ersten Besuch in Polen ging Papst Paul Johannes II. auf ein kleines Mädchen am Straßenrand zu und fragte es: "Wo ist Polen?" Das Mädchen, verständlich verstört, starrte ihn nur ausdruckslos an. Da legte ihr der Papst die Hand aufs Herz: "Hier ist Polen."

Bei aller Sentimentalität besticht aber auch Bracks versteckter Humor. Auch wenn sich hier erneut der Verweis auf "Rechnung mit einer Unbekannten" anbietet - wer möchte schon, wie Tolonen am frühen Morgen seines vierzigsten Geburtstages, völlig verkatert und mit Filmriss, von aufdringlichen mormonischen Laienpredigern geweckt werden -, so birgt auch die Trilogie reine Sarkasmen. Insbesondere in der Person des Tadeusz Estreicher. Dabei ist Estreicher auf den ersten Blick wenig eindrucksvoll. Ein altes, schmächtiges Männchen, das mit seiner schwarzen Kleidung als bockiger Klischee-Anarchist erscheint und sicherheitshalber immer einen Regenschirm dabeihat. Ähnlich wie Kronstad birgt er jede Menge Widersprüchlichkeiten in sich und damit das Potential, mit ihm und über ihn zu lächeln. Wenn beispielsweise sein erhobener Zeigefinger und der ungeschickte Umgang mit dem weiblichen Geschlecht korrespondieren oder in gekonnter Ignoranz ein aufdringlicher Vertreter der Metaphysik abgebügelt wird. Zugleich ist Estreicher aber auch ein lebender Anachronismus. Ohne korrumpierte Ideale, ohne Zugeständnisse, ohne Vernebelungstaktiken. Und ohne Erfolg. Was ihn noch liebenswerter erscheinen lässt, denn er wurde ebenso von der Zeit überholt wie das Polen in Bracks Trilogie.

Aber es ist wichtig, geschichtliche Ereignisse und Gedanken aufzuarbeiten oder an Personen zu erinnern, auch wenn sie nicht mehr aktuell erscheinen. Wenn der Kriminalroman mehr sein soll als die gekonnte Lösung einer Rechenaufgabe, wenn er der realistische Roman des 20. Jahrhunderts sein soll und will, dann muss er auch mehr transportieren als Suspense und Action. Dann muss er Geschichte und Geschichten erzählen, Zeitgenossenschaft mit sich tragen, illusionslos und kunstvoll sein.

So wie James Ellroy das Los Angeles der fünfziger Jahre mit seinen kommunistischen Hexenjagden rekonstruiert, so wie Eric Ambler internationale Intrigen in ihren ganzen wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen schildert, so stellt Robert Brack ein Polen dar, das verloren scheint. Dass dieses Polen mehr ist als ein ideologisch klappriges Gerippe, liegt zuvörderst an den Menschen, die Brack schildert. Es liegt aber auch daran, dass, wie Brack sagt, "das Scheitern des Sozialismus nicht nur im Osten stattfindet, sondern in Gesamteuropa. Es ist eine europäische Tragödie. Wer sich nicht vom Anachronismus der Nationalgrenzen blenden lässt, weiß: Was in Polen passiert, passiert uns allen."

Hamburg, im März 1990

erschienen als Nachwort zu Robert Brack, "Die siebte Hölle", Rowohlt Taschenbuch Verlag 1990

zurück zur hauptseite [ biographie ] Robert Brack
zurück zum [seitenanfang]