robert brack

trompeten für max jericho

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Als Max Jericho am Morgen aus dem Bett fiel, war es schon 10 Uhr 30. Langsam öffnete er die Augen und wurde von hunderttausenden von Sonnenstrahlen begrüßt, die durch das schmutzige Fenster hindurchschienen. Es gab keine Fluchtmöglichkeit mehr: Max Jericho, 42, ledig, arbeitslos, musste sich dem Tag stellen.

Stöhnend stand er auf und steuerte auf die Badezimmertür zu. Nach wenigen Schritten stieß sein nackter Fuß an einen kalten, harten Gegenstand. Es war eine Whiskeyflasche. Max bückte sich, hob die Flasche auf und stellte sie vorsichtig neben das Bett. Dann schlurfte er ins Badezimmer.

Als er fertig war, suchte er seine Klamotten zusammen, zog sich an und nahm einen Guten-Morgen-Schluck aus der Flasche. Nachdem er den Geldbeutel unter dem Kopfkissen hervorgekramt hatte, verließ er eilig seine Wohnung. Zwei Straßen weiter gab es ein Stehcafé. Dort wollte er frühstücken.

"Zwei Kaffee und zwei Pastetchen, bitte", sagte Max Jericho zu der Verkäuferin, die ihn, wie jeden Morgen, nicht ansah, obwohl er hier Stammkunde war. Er bezahlte mit einem Hunderter. Er hatte nämlich im Lotto gewonnen. Tatsächlich. Aber keiner wollte es ihm glauben. Zum Beweis trug er immer ein paar tausend Mark bei sich.

Das Stehcafé war fast leer. Max würgte die Pastetchen runter und schüttete den Kaffee hinterher. Durch die Tür kam Peter und Paul.

Peter und Paul war nur eine Person und hieß eigentlich Peter-Paul Harbach, aber seine Kumpels nannten ihn alle Peter und Paul. Er stellte sich neben Max und nickte freundlich:

"Morgen, Max. Wieder im Lotto gewonnen heute? Dann kannst du mir ja den Kaffee bezahlen."

Max nickte: "Jo!" und schob ihm ein Markstück hin. Er blickte auf den kleinen kugelrunden Peter und Paul hinunter. Der hatte meistens gute Laune, obwohl es ihm schlecht ging.

Peter und Paul holte sich eine Tasse Kaffee. Als er zurückkam, zog er eine Zeitung aus der Jackentasche: "Guck mal was hier steht", sagte er. "Amokläufer! Gemetzel in einer Kleinstadt! Ist das nicht schön?" Er kicherte wieder.

"Zeig mal her." Max nahm ihm das Blatt aus der Hand. "Drei Tote, zehn Verletzte, nicht schlecht", murmelte er.

"Blut", sagte Peter und Paul mit einem verklärten Lächeln.

"Hm hm." Max studierte den zehnzeiligen Artikel einige Minuten lang. Dann knüllte die Zeitung zusammen: "Lass uns mal was zu trinken holen, es wird Zeit."

Peter und Paul nickte eifrig: "Na klar."

Sie verließen das Stehcafé und besuchten einen Supermarkt. Mit einer Flasche Whiskey für Max und einem Gruselroman für Peter und Paul machten sie sich dann auf den Weg in den Park. Sie setzten sich auf eine Bank. Peter und Paul begann zu lesen. Max nahm einen Schluck aus der Whiskeyflasche.

Während Peter und Paul in seinem Gruselroman blätterte, las Max weiter in der Zeitung und trank. Allmählich wurde es warm. Irgendwann schmiss Max die Zeitung auf den Boden und stöhnte laut auf:" Oh Mann!"

"Was ist denn los?" Peter und Paul blickte verschlafen von seinem Heftchen auf.

"Ich werd heut noch Amok laufen", erklärte Max.

"Was?" Peter und Paul blickte ihn verständnislos an.

"Amok", sagte Max und hob die Zeitung wieder auf. "Hier steht`s." Er klopfte mit dem Finger auf das große, fettgedruckte Wort: "A-M-O-K."

"Na denn man to", sagte Peter und Paul und vertiefte sich wieder in den Gruselroman.

Max grunzte unzufrieden und griff nach seiner Flasche: "Ich geh jetzt jedenfalls."

Er knüllte die Zeitung zusammen, klemmte die Whiskeyflasche unter den Arm, stand auf und stelzte davon. Peter und Paul sah nicht auf, das Monster aus der Gruft war ihm jetzt wirklich wichtiger.

Als Max vor dem Waffengeschäft ankam, stopfte er die Flasche in seine Jackentasche. Er vergewisserte sich, dass die Tausender noch in seinem Geldbeutel waren und trat ein. Hinter dem Tresen stand ein dünner Mann in hellgrauem Kittel. An den Wänden, auf Tischen, in Schränken und Vitrinen hingen, standen und lagen unzählige Gewehre und Pistolen. Auch der dünne Mann hielt eine Pistole in der Hand.

"Tja, hm", sagte Max und stellte sich breitbeinig hin, "ich will was Großes ... also, ein Gewehr soll`s schon sein ..."

Der dünne Mann legte die Pistole beiseite und strahlte ihn an: "Da sind sie bei mir ganz richtig. Haben Sie schon genauere Vorstellungen?"

"Na ja", Max machte eine vage Handbewegung, "zum Schießen halt ... so ein Gewehr ... nicht zu klein ..."

Der Verkäufer wurde misstrauisch: "Haben Sie denn einen Waffenschein?"

"Na klar, hab ich, hab ich, kein Problem."

Der dünne Mann hüstelte und nickte nachdenklich: "Sie wollen sicher ein Jagdgewehr, jetzt, wo die Saison beginnt ..." Er drehte sich um und holte eine schwere Büchse aus dem Schrank. Max nahm sie ihm linkisch ab und wog sie mit beiden Händen. Dann drehte er sich um, legte an und spähte durch das Zielfernrohr.

"Ist die geladen?", fragte Max.

"Selbstverständlich nicht."

"Peng!", sagte Max, "peng!"

Er nahm das Gewehr herunter: "Ganz schön schwer."

"Wir haben auch leichtere Modelle, zum Beispiel dieses." Der Verkäufer reichte ihm ein kürzeres Gewehr aus hellem Holz. Das gefiel Max schon viel besser. Er wirbelte damit in der Luft herum, und der Verkäufer mußte ausweichen.

"Das nehm ich, was kostet das?"

"1146 Mark plus Mehrwertsteuer. Aber erst muß ich Ihren Waffenschein sehen."

Max seufzte: "Hab ja keinen."

Hastig nahm der Verkäufer das Gewehr von der Theke.

"Wenn Sie keinen Waffenschein haben, kann ich ihnen höchstens ein Luftgewehr verkaufen."

"Luft ...", murmelte Max unschlüssig.

"Wie wäre es mit diesem hier?" Der Mann deutete auf ein Modell, das nicht weniger imposant aussah als die anderen.

Max überlegte einen Moment, dann stöhnte er resigniert: "Gebens Sie`s her!"

"598 Mark inklusive."

Max knallte einen Tausender auf den Tresen.

"Stimmt so!", rief er großspurig. "Geben Sie mir noch ein bisschen Munition."

Der Verkäufer legte ein Päckchen hin und reichte ihm die Waffe. Max riss sie ihm aus der Hand, schob das Päckchen in die Jackentasche, drehte sich um und stürmte zur Tür hinaus.

An der nächsten Straßenecke blieb er kurz stehen und bestaunte seine Neuerwerbung. Das Sonnenlicht blinkte auf dem polierten Lauf. Max war begeistert. Er zog die Whiskeyflasche aus der Tasche und nahm einen großen Schluck. Dann rannte über die Straße zur S-Bahn-Station.

Er setzte sich in einen Wagen erster Klasse und lud umständlich seine Waffe. Zwischendurch nippte er an der Flasche. Wenn jetzt ein Kontrolleur kommt, bin ich fein raus, dachte er, den knall ich einfach ab.

Als er vor dem Rathaus ankam, spürte er den Whiskey und er setzte sich auf eine Bank, um kurz zu verschnaufen. Sein Gewehr legte er auf die Oberschenkel. Einige Meter von ihm entfernt pickten Tauben nach Brotkrumen, die ein Rentner auf den Boden geschüttet hatte.

Er verzog das Gesicht zu einem bösen Grinsen. Amok!, dachte er. Dann nahm er das Gewehr in die Hände, entsicherte es und legte an. Durch das Visier sah er die Tauben. Er suchte sich eine aus und zielte genau auf ihr Auge. Amok!, dachte er wieder. Dann drückte er ab. Es gab einen kleinen Knall, eher einen Plopp, und die Taube fiel um. Max lachte triumphierend auf. Die anderen Tauben ließen sich nicht stören. Max zielte auf eine andere. Plopp! Auch sie fiel um. Max behielt das Gewehr im Anschlag und grunzte zufrieden. In schneller Folge schoss er sieben weitere Tauben über den Haufen.

Eine Frau in Latzhose kam auf ihn zugelaufen und rief: "Also hören Sie mal!"

"Was`n los?", fragte Max mit schwerer Zunge.

Die Stimme der Frau kiekste: "Die armen Tiere!"

"Ach was", sagte Max. "Außerdem üb ich nur."

"Das sind Friedensvögel, Sie Flegel!"

"Scheiß Frieden", grunzte Max und legte wieder an.

Die Frau drehte sich zu einem Rentnerpaar um, das hastig vorbeitrippelte: "Sehen Sie denn nicht, was der macht?" Die Rentner sahen zu Boden.

Max zielte jetzt auf die Frau: "Flieg, mein Täubchen."

Die Frau begann gellend nach Hilfe zu rufen und verstummte erst, als hinter Max ein Martinshorn ertönte.

"Oha, die Bullen", murmelte Max, setzte das Gewehr ab und drehte sich um.

Vor einem großen Gebäude blinkten rote Lampen auf. Genau von dort kam auch das Heulen der Sirene. Einige Personen rannten eine breite Steintreppe hinunter. Über dem Eingangsportal stand in mächtigen goldglänzenden Buchstaben: TRANSATLANTIC INTERNATIONAL BANK.

"Ein Banküberfall", stellte Max fest.

Er sprang auf und rannte auf das Bankgebäude zu: "Ich komme!"

Er erreichte die Steintreppe. Von drinnen drang das Geräusch mehrerer Salven aus Maschinenpistolen nach draußen. Ein schwarzer BMW hielt mit quietschenden Reifen vor der Bank. Max stürmte die Treppe hinauf.

"He!", schrie er, "he!"

Die Türen wurden aufgestoßen und zwei schwarzvermummte Gestalten mit Maschinenpistolen und großen Säcken in den Händen kamen herausgestürmt.

"He, Jungs!" rief Max. "Ich bin dabei, ich mach mit."

Er hob sein Gewehr.

Einer der Gangster knallte ihm seine Maschinenpistole ins Gesicht. Max taumelte nach hinten und stieß gegen eine breite Säule. Das Luftgewehr mit beiden Händen umkrampft, sackte er langsam zusammen und blieb gegen die Säule gelehnt liegen.

Die Gangster warfen sich in ihr Fluchtauto, das mit quietschenden Reifen davonraste. Das laute Heulen zahlreicher Martinshörner kam näher.

Als Max die Augen wieder aufbekam, blitzte seine Umgebung in blauem Licht. Polizeibeamte, verschreckte Bankkunden und bleiche Bankangestellte liefen durcheinander. Max rappelte sich auf. Mit dem Gewehr in der Hand ging er zu einem Beamten und tippte ihm auf die Schulter: "Ich stelle mich."

Der Polizist drehte sich verwundert um, dann wurde er zornig: "Machen Sie bloß, dass Sie wegkommen!"

Er packte Max am Arm und schubste ihn die Treppe hinunter. Max stolperte bis zur nächsten Straßenecke und lehnte sich kopfschüttelnd gegen eine Hauswand.

In diesem Moment kam eine Kapelle der Heilsarmee um die Ecke, mit Akkordeon, Gitarre und zwei Trompeten. Max Jericho richtete sich auf, schulterte sein Gewehr, schwenkte rechts um und marschierte mit.

Die Trompeten glänzten im Sonnenschein. Zwei alte Frauen in Uniform sangen mit zitternden Stimmen ein kämpferisches Lied. Max stimmte ein. Ein zittriges Männlein gesellte sich zu ihm, zupfte ihn am Ärmel und sagte: "Manche Leute glauben, dass man mit Gott nicht mehr sprechen kann in unserer Zeit. Wir aber haben Beweise, dass dieser alte Mann noch lebt."

Max nickte eifrig: "Ich mach mit!", sagte er.

"Trompeten für Max Jericho" Copyright 2000 by Robert Brack, Hamburg
Erstveröffentlichung in: Literarischer Taschenkalender 1991, Edition Nautilus Hrsg: Lutz Schulenburg/Peter M. Hetzel, überarbeitete Fassung in: Magazin Nr. 5 (Berlin, 2000), englische Übersetzung "Trumpets for Max Jericho" in: 3rd Culprit (Edited by Liza Cody, Michael Z. Lewin & Peter Lovesey, Chatto & Windus, London, 1994, übersetzt von William Adamson)

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