die schwarze schlange

leseprobe

die schwarze schlange

Der dritte Teil der St. Pauli-Trilogie erschien im März 2006 im Heyne Verlag.
432 Seiten, 21,95 Euro, ISBN-10: 3-453-01733-1
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aus dem Prolog:

nacht

"Du lachst, Heinrich?" fragte Oberwachtmeister Schenk.

Kriminalkommissar Hansen versuchte ein Prusten zu unterdrücken. Er schaute aus seinem Dienstzimmer im zweiten Stock auf den Parkplatz vor der Davidwache und konnte sich kaum beherrschen. Hauptwachtmeister Kelling, wie immer in vorbildlich gebügelter grüner Uniform, hatte sich gerade nach vorn gebeugt, um die frisch angelieferten schwarzen Hauben über die Scheinwerfer des DKW-Dienstwagens zu stülpen. Dabei war ihm sein Tschako vom Kopf gerutscht, auf die Erde gefallen und unter das Auto gerollt. Nun kniete er auf dem Pflaster und fischte verzweifelt nach seiner Kopfbedeckung.

"Was gibt's denn da zu lachen?" brummte Schenk.

"Er hat einen fliehendes Kinn", sagte Hansen grinsend, "und deshalb rollt ihm der Helm davon."

"Deinen Humor möchte ich haben", sagte Schenk, aber auch er musste lächeln. Es war bekannt, dass Kelling Probleme hatte, den Riemen seines Tschakos korrekt festzuzurren.

Die Männer von der Kripo machten sich gern mal über Hauptwachtmeister Kelling lustig, der vor fünf Jahren die Leitung der Ordnungspolizei übernommen hatte, als das Revier Nr. 13 in Revier Nr. 36 umbenannt worden war. Damit war er zu Hansens Stellvertreter aufgestiegen. Dem Kommissar wäre lieber gewesen, die Herren im Stadthaus hätten den gemütlichen Schenk auf diesen Posten gesetzt. Der war aber erst 1933 in die Partei eingetreten und nicht so strebsam wie Kelling.

"Warum macht er das eigentlich selbst?" fragte Schenk.

"Du kennst ihn doch", sagte Hansen. "Er muss immer erstmal selbst Hand anlegen. Das hilft bei der anschließenden Besserwisserei."

"Ist auch nur ein Mensch", stellte Schenk fest.

Sie beobachteten wie Kelling in die Wache eilte und mit einem Gummiknüppel zurückkam. Damit gelang es ihm endlich, den Helm unter dem Auto hervorzuholen. Er setzte ihn wieder auf und zupfte an den Stoffmützen mit den schmalen Schlitzen herum, bis sie seiner Ansicht nach richtig auf den Scheinwerfern saßen. Dann ging er zurück ins Polizeigebäude.

"Er könnte sich auch noch um die Dinger hier kümmern", sagte Hansen und deutete auf das schwarze Rollo, das über dem Fenster angebracht worden war.

"Wieso? Das hängt doch schon."

"Zieh mal runter."

Schenk zog das Rollo nach unten. Nach zwei Dritteln der Strecke klemmte es. "Gottverdammt", fluchte er. "Im ersten Stock funktionieren die alle einwandfrei", sagte Hansen. "Ich werde mal Kelling fragen, wie sie das hingekriegt haben. Muss sowieso los."

Wachtmeister Schenk blickte nach draußen. Das goldene Licht der untergehenden Herbstsonne, das sich eben noch über den Spielbudenplatz ergossen hatte, war verblasst. Ein Mann in Overall mit einer großen Umhängetasche ging von Baum zu Baum, legte Folienstreifen um die Stämme und nagelte sie fest.

"Dann soll er aber gleich mal jemanden hochschicken, es wird nämlich Zeit", sagte Schenk.

"Also dann bis später." Hansen wandte sich um und nahm den Trenchcoat vom Garderobenhaken.

"Nee, nee!" rief Schenk ihm hinterher, als er durch die Tür ins Treppenhaus verschwand. "Ich mach mich gleich auf die Socken. Ich hab nämlich Feierabend."

 

"Jawohl, Herr Kommissar. Werde mich darum kümmern. Heil Hitler!", sagte Kelling zum Abschied, nachdem Hansen ihn im Eingang der Wache abgefangen hatte.

Na, dann wird ja bald alles in Ordnung sein, dachte Hansen befriedigt, als er die Davidstraße überquerte. Eine Straßenbahn rumpelte aufgeregt klingelnd über die Kreuzung, Automobile hupten kampflustig, Motorräder knatterten nörgelnd vorbei. Feierabend. Bald wird es auf der Straße ganz ruhig werden, dachte Hansen. Und wie wir heute Nacht zu Fuß hier klarkommen sollen, weiß der Himmel. Er umfasste die Taschenlampe, die er vorsorglich schon am Nachmittag in die Manteltasche gesteckt hatte. Wenn nur die Birne nicht durchbrannte oder der Dynamo seinen Geist aufgab.

Am frühen Abend die Reeperbahn Richtung Nobistor zu schlendern und sich dabei Gedanken zu machen, ob er am Wilhelmsplatz nach links oder in der Talstraße nach rechts abzweigen sollte, war Hansens liebste Tour. Seit zwei Jahren dauerte sie länger, denn sein Revier umfasste nun auch einige Straßen des Vergnügungsviertels, die bis 1937 zu Altona gehört hatten.

Hansen schaute auf die Armbanduhr und entschied, diesmal direkt zur Großen Freiheit zu gehen.

Seit Beginn der 30er Jahre war dies die strahlendste, glänzendste und lebendigste Straße der Amüsiermeile. Bunte Leuchtbuchstaben wiesen auf bekannte Etablissements mit weit über die Grenzen von Groß-Hamburg berühmten Namen hin, grelle Girlanden und Leuchtbögen mit Hunderten von Glühbirnen überspannten die Straßen von einer Seite zur anderen. Hansen entdeckte den Polizeiposten, der die verkehrsreiche Gegend rund um das Nobistor kontrollierte. Als der Mann ihn bemerkte, kam er mit schweren Stiefelschritten auf ihn zu und legte grüßend die Hand an den Tschako: "Heil Hitler, Herr Kommissar."

"Guten Abend." Hansen tippte mit dem Zeigefinger gegen die Hutkrempe. "Polizeimeister Lüttge, richtig?"

"Jawohl, Herr Kommissar."

"Gut." Hansen war froh, dass er den Namen des Beamten auf Anhieb erinnert hatte. Der Mann gehörte noch nicht lange zum Revier. "Und? Alles in Ordnung?"

"Keine besonderen Vorkommnisse", sagte der Polizeimeister.

"Die wissen hoffentlich alle Bescheid?", fragte Hansen

"Aber gewiss doch!"

Schweigend standen sie unter der Lichterkette mit den riesigen Leuchtbuchstaben, die vom Bierhaus Schmidt bis zur anderen Seite der Reeperbahn verlief und darauf hinwies, dass die Große Freiheit keine Seiten-, sondern eine Hauptstraße des Vergnügens war.

"Da", sagte Lüttge.

Der leuchtende Halbkreis mit dem Schriftzug "Winterhuder Märzen" auf dem Dach des Bierhauses erlosch. Dann verschwand das Wort "Tanz" von der Fassade, "Bierhaus" und "Schmidt" gingen aus, ebenso die Lampe, die die Tafel mit den angepriesenen Bier-Spezialitäten beleuchtete.

Es folgten die Leuchtschriften der Nachbarlokale: Das Eldorado verschwand, ebenso das Indra und das Honolulu, der Schriftzug des Café Nordstern war plötzlich weg, beim Ballhaus Rheingold flackerten die Lampen, bevor sie erstarben, die Jungmühle und das Hippodrom folgten; gleichzeitig gingen die Lampen in den Schaukästen aus und die Fotos und Zeichnungen, die die Passanten hereinlocken sollten, waren nicht mehr zu sehen. Die Silhouetten der Türsteher in den schmucken Uniformen wurden immer grauer. Das bisschen Helligkeit, das der Himmel noch hergab, war wirklich jämmerlich im Vergleich zu den künstlichen Lichtquellen. Einige Türsteher verschwanden im Inneren der Lokale, andere schalteten Taschenlampen ein und leuchteten einander an, nur zum Scherz, denn so dunkel, dass die Lämpchen Sinn machten, war es noch nicht. Als Vorletztes wurden die strahlenden Buchstaben vom Tanz-Café Neu-China und dem Restaurant-Varieté Cheong Shing abgeschaltet. Nur die Reklame des China-Restaurants Fong Leng blieb bestehen.

"Was ist denn da los?" murmelte der Polizeimeister.

"Sind wohl doch nicht alle unterrichtet", stellte Hansen fest.

"Na ja, die Chinesen", sagte Lüttge. "Die lesen ja keine Zeitung und verstehen nur Tsching Tschang Tsingtau."

"Dann geh‘n Sie mal rüber und verklickern ihm, dass er seine Lizenz verliert, wenn er nicht augenblicklich die Lichter ausdreht."

"Jawohl, Herr Kommissar." Der Beamte salutierte und machte sich auf den Weg.

Hansen blickte die Reeperbahn entlang. Die Leuchtstreifen an den Bäumen und anderen Hindernissen, glimmten grünlich. Auch andere Passanten waren stehen geblieben und schauten sich um. Einige holten ihre Leuchtplaketten heraus und hefteten sie an die Kleidung. Nur wenige schienen überrascht. Ausländer wahrscheinlich, sonst wussten ja alle Bescheid. Eben noch ein fröhlicher erster September, jetzt sieht es aus wie November, dachte Hansen. Na ja, wärmer ist es noch. Aber was ist mein St. Pauli ohne Licht? Und wie soll das erst Nachts werden, wenn wir jemanden verfolgen müssen? Die Verdunklung spielt den Dunkelmännern in die Hände, das steht fest.

Er hob den Kopf uns starrte in den dunklen Himmel. Man konnte weiße Wolkenfetzen erkennen. Hatten die Polen überhaupt eine Luftwaffe?

Die Leuchttafel über dem Restaurant Fong Leng erlosch. Kurz darauf wurden die Verdunklungsrollos in den Fenstern heruntergezogen. Na bitte, dachte Hansen, etwas mehr Deutsch, als der Kollege dachte, kann der Chinamann also doch.

Die Tür des Lokals ging auf und die Umrisse des Polizisten tauchten auf. "Licht aus!" brüllte ein die Straße entlanglaufender Luftschutzwart. Die Tür schloss sich. Hansen blieb gespannt stehen. Der Uniformierte schob eine Gestalt vor sich her, die ihm gerade mal bis zum Kinn reichte. Als die beiden näher kamen, erkannte Hansen, dass es der kleine Heinicke war. Ulrich Heinicke, vierzehn Jahre alt, Sohn eines Gastronomen und selbst schon unternehmerisch tätig als Stromkassierer.

Als sie bei Hansen angekommen waren, hob der Junge brav den Arm zum deutschen Gruß.

"Na, Ulrich, was hast du denn ausgefressen?"

Der Junge ließ den Kopf hängen. Er trug eine kleine Umhängetasche aus Leder bei sich.

"Kriegsgewinnler", sagte Lüttge.

"Wie bitte?" Hansen war überrascht.

Der Polizeimeister deutete auf die Umhängetasche: "Er hat eine ganze Münzsammlung da drin."

"Um was geht's denn eigentlich?" fragte Hansen.

"Ich bin betrogen worden", sagte Ulrich Heinicke und betonte das 'ich'.

"Von wem?" fragte Hansen. "Und wie?"

"Unsinn", sagte Lüttge. "Er muss die Tasche da abgeben." Er versuchte danach zu greifen, aber der Junge schob sie sich auf den Rücken und trat einen Schritt zurück.

"Na, warte, Bürschchen", sagte der Polizist und packte den Jungen am Unterarm, um ihn zu sich zu zerren.

"Moment mal, immer langsam!" rief Hansen. Er zog seine Lampe aus der Tasche, knipste sie an und leuchtete damit auf die Tasche.

"Sieht nicht sehr voll aus", stellte er fest.

"Ja, eben", sagte der Junge störrisch.

"Also?" Hansen sah ihn fragend an, soweit das in der Dunkelheit überhaupt möglich war.

"Von wegen nicht voll", mischte sich der Uniformierte wieder ein. "Das sind alles Heiermänner da drin."

"Das ist doch normal", sagte Hansen zu seinem Untergebenen. "Wie lange sind Sie eigentlich schon bei uns, Lüttge?

"Seit zwei Wochen, Herr Kommissar."

"Aha, heute erster Nachtdienst in der Freiheit?"

"Zweites Mal."

"Aber mit Ulrich Heinicke noch nicht bekannt."

"Nein, aber ist doch wohl klar, dass der Bengel nach Hause muss."

Hansen richtete den Lichtkegel der Taschenlampe auf die Brust des Jungen: "Nach getaner Arbeit geht's ab zu Muttern wie jeden Tag, stimmt's Ulrich?"

"Ja, klar. Darf ich dann also gehen?"

"Gleich, Ulrich."

Polizeimeister Lüttge starrte Hansen erstaunt an. "Aber er hat den Chinesen dazu gebracht, gegen das Verdunklungsverbot zu verstoßen und dann wollte er ihn erpressen."

"Nein!" rief der Junge. "Das ist doch gar nicht wahr. Der schuldete mir noch was! Und überhaupt kann ich meine Arbeit vergessen, wenn's jetzt immer dunkel sein muss." Er zog seine Tasche über den Kopf und schmiss sie auf den Boden.

"Na, na, Ulrich", sagte Hansen. "Ist doch dein Geld da drin, oder?"

"Ach was, das muss ich jetzt doch zurückgeben. Es lohnt sich nicht mehr, wenn ich jeden Tag nur noch für zwanzig Pfennig pro Kneipe in den Zähler schmeiße."

"Was macht er?" fragte Lüttge verwirrt.

"Er kassiert von den Wirten der Großen Freiheit das Geld für die gemeinsamen Lichterketten. Irgendjemand muss sich ja darum kümmern, dass der Stromzähler immer rechtzeitig mit Münzen gefüllt wird, sonst wird's dunkel."

"Ist es ja jetzt", klagte Ulrich Heinicke. "Wird doch gar nicht mehr richtig angemacht. Tagsüber bringt es ja nichts. Und jetzt wollen sie alle ihr Geld zurück haben. Und ich geb's ja auch, aber der Chinese da hatte noch Schulden bei mir. Weil er nicht rechnen kann, hat er sich bockig gestellt und meinte, dann lässt er das Licht eben an, er zahlt nicht für's ausmachen, sagt er."

Hansen sah Lüttge an: "Stimmt das so?"

Der Polizeimeister hob die Schultern: "Ich hab doch kaum was verstanden von diesem Kauderwelsch. Der Chinese war wütend, weil der Junge Geld haben wollte und ich sagte, er müsse trotzdem das Licht ausmachen."

"Ein Missverständnis also."

"Wenn Sie meinen, Herr Kommissar."

"Ja." Hansen hob die Geldtasche auf. "Und das Geld hier drin wolltest du zurückgeben?" Er hielt die Tasche hoch.

"Klar, ist doch Ehrensache", sagte Ulrich Heinicke. "Aber die, die zuwenig gegeben haben, muss ich trotzdem abkassieren, sonst zahl ich drauf."

"Das stimmt." Hansen gab ihm die Tasche. "Dennoch solltest du besser morgen Nachmittag weitermachen, wenn es hell ist. Die Zeiten haben sich geändert, mein Junge."

"Jawohl, Herr Kommissar. Soll ich dann gehen?"

"Schnurstracks nach Hause."

"In Ordnung, also tschüs dann!"

Ulrich Heinicke rannte los und verschwand im Dunkel der Großen Freiheit.

"Den sollten Sie mal lieber in die HJ stecken, damit er anständig zu grüßen lernt."

"Nun machen Sie mal weiter, Lüttge. Und halten Sie die Augen offen." Hansen knipste die Lampe aus und ging.

"Heil Hitler, Herr Kommissar", sagte Lüttge hinter ihm.

Hansen ging die Reeperbahn hinauf. Aus den Vergnügungslokalen drang Musik und Gelächter, aber kein Lichtschein. Die Straßenbahnen und Autos fuhren langsamer als sonst und beleuchteten die Fahrbahn vor ihnen nur mit einem schmalen Lichtstrahl, der durch den Schlitz der Verdunklungskappen drang. Ab und zu blitzte es an den Hochspannungsleitungen der Straßenbahnen. Im Innern der Waggons konnte man kaum die Schatten der Passagiere erkennen.

Über diese Blitze, die man sonst kaum sieht, freut man sich jetzt, dachte Hansen. Und über jedes Aufflackern eines Streichholzes oder Feuerzeugs, die Leuchtplaketten an den Klamotten, das Glimmen einer Zigarette und dieses Liebespaar da drüben, das sich einen Spaß macht, sich mit der Taschenlampe ins Gesicht zu leuchten, bevor es sich küsst.

Er betrat eine Bierhalle, um etwas Licht zu tanken. Drinnen war alles so wie immer: Vor einer Bühne mit künstlichem Alpenpanorama spielte eine Blaskapelle bayerische Stimmungsmusik und Männer in Lederhosen jodelten dazu. Die langen rohen Tische waren gut besetzt und muskulöse Kellnerinnen trugen mächtige Bierkrüge durch den Saal. Später gibt's dann wieder die obligatorische Schlägerei und alles ist wie im Frieden, dachte Hansen.

Er klapperte noch einige Lokale ab, um herauszufinden, ob sich irgendetwas wesentlich verändert hatte, aber auf St. Pauli lebte der Leichtsinn fort wie eh und je.

Auf seltsame Art erleichtert kehrte Hansen zur Davidwache zurück. Im Hochparterre war es dunkel, ebenso im ersten Stock und im zweiten. Nur im dritten, wo sich seine Dienstwohnung befand, bemerkte man, wenn man genau hinschaute, dass die Rollos noch nicht herabgelassen waren. Aber das war kein Problem, so lange dort kein Licht anging.

Darauf musst du achten, dachte Hansen, geh als gutes Beispiel voran, das tust du schließlich schon seit zwanzig Jahren. Solltest nicht nachlässig werden, auf deine alten Tage.

Im Wachraum wurde er vom diensthabenden Beamten begrüßt, der seltsamerweise aufstand, Haltung annahm und sagte: "Sie werden erwartet, Herr Kommissar, in ... Ihrem Büro."

"Was gibt's denn?"

"Kelling, Herr Kommissar, er ist zum Oberwachtmeister befördert worden."

"Kelling? Befördert? Wieso weiß ich nichts davon?"

"Gerade erst passiert, Herr Kommissar."

"Mitten in der Nacht?"

"Jawohl, so verhält es sich offenbar."

"Na ja ... Und dann sucht er sich mein Büro aus, um zu feiern?"

"Er feiert nicht, Herr Kommissar. Inspektor Stallmann ist bei ihm."

"Stallmann aus dem Stadthaus?"

"Ja ... "

Hansen stutzte. "Was will der denn hier so spät am Tag?"

"Sie sind gleich nach oben gegangen. Kelling hat ihn wohl schon erwartet. Ich dachte Sie wüssten ... "

"Nee, da hat wohl mal wieder ein kleines Licht in der Zentrale vergessen durchzurufen. Die machen uns immer die Hölle heiß, aber selber sind sie auch nicht besser."

"Ich soll Ihnen bloß ausrichten, dass Sie gleich hochkommen sollen", sagte der Beamte, setzte sich wieder und wandte sich der Kladde mit den Diensteinträgen zu.

Hansen seufzte. Laut Dienstplan hatte er jetzt eigentlich Feierabend. Er war müde nach fünf Tagen Frühdienst und zwei nächtlichen Einsätzen. Einen steifen Grog in den eigenen vier Wänden trinken, das war das einzige, was ihn im Moment interessierte, im Sessel sitzen, die Beine hochlegen, und vielleicht gab es ja noch ein bisschen Radiomusik, die brachten ja jetzt immer mehr Volksmusik, und hier in Hamburg waren oftmals Seemannslieder dabei. Die hörte er gern, das konnte er richtig genießen, hatte er festgestellt, die alten Lieder, manchmal sang er leise ein bisschen mit, war ja lange her, dass er draußen auf See gewesen war. Seit er abgemustert hatte, war er bestenfalls mal mit einem Dampfer nach Helgoland geschippert. Bootsmann Hansen war eine Landratte geworden. Aber wenn die alten Lieder aus dem Radioapparat tönten und der Grog in wärmte und dieses schauderhafte Rheuma mit kribbeligem Wohlgefühl überdeckte, dann sah er sich wieder an Bord des Panzerkreuzers stehen und nach fliegenden Fischen Ausschau halten. Manchmal war er im Sessel eingeschlafen, und am nächsten Morgen mit bleischweren Gliedern und steifen Gelenken aufgewacht, und das Kribbeln, dass er nun im Rücken spürte war alles andere als Wohlbehagen. So wird man alt, aber die Lieder, die werden es nicht.

Hansen stieg die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Die Tür zu seinem Büro war einen Spaltbreit offen. Da drinnen sitzen jetzt also Kelling und Stallmann, die hätten sich auch einen anderen Platz zum Warten aussuchen können ...

Hansen schob die Tür auf, trat ein und sagte "Guten Abend."

Kelling sprang von Hansens Platz hinter dem Schreibtisch auf und hob den Arm zum Deutschen Gruß. Stallmann, der gerade die große Hamburg-Karte an der Wand studiert hatte, drehte sich um. Er trug einen schwarzen Ledermantel und überragte den nicht gerade klein gewachsenen Hansen um einiges. Kantiges Gesicht, schütteres Haar, krumm gewachsen, aber ein harter Hund, der Karriere in der SS gemacht hatte, bevor sie ihm einen leitenden Posten bei der Hamburger Polizei gegeben hatten.

"Na, Kelling, saßen Sie bequem?" fragte Hansen.

"Man gewöhnt sich dran."

Hansen wandte sich an Inspektor Stallmann: "Ich hoffe, Sie haben nicht allzu lange auf mich warten müssen. Aber ich wollte mich persönlich davon überzeugen, dass die Verdunklungsvorschriften im Revier eingehalten werden."

"Und?" fragte Stallmann.

"Alles bestens."

"Na schön."

Kelling hinter dem Schreibtisch schien wie angewurzelt.

"Darf ich dann mal?" fragte Hansen und ging drei Schritte um den Tisch herum.

Kelling schaute zu Stallmann.

"Lassen Sie mal, Hansen", sagte der Inspektor. "Oberwachtmeister Kelling macht sich doch ganz gut auf dem Platz da."

"Na, herzlichen Glückwunsch zur Beförderung, aber er will ja wohl nicht heute Abend die Revierleitung übernehmen", sagte Hansen scherzhaft.

"Doch, das will er", sagte Stallmann.

Kelling setzte sich wieder.

Hansen schüttelte den Kopf. "Lass man, Kelling, der Stuhl da passt mir immer noch ganz gut."

"Mit sofortiger Wirkung sind Sie nur noch stellvertretender Revierleiter", sagte Stallmann.

Hansen schaute verwirrt auf und merkte, dass sich irgendwas in seinem Brustkorb zusammenzog.

Kelling hüstelte. Dieser aalglatte, übereifrige, strebsame, kriecherische Kelling, der hier vor knapp zwanzig Jahren schon hackenschlagend reingekommen war, der nur darauf gewartet hatte, bis seine Stunde schlägt, der auf der Lauer gelegen hat wie ein Aasgeier in gebügelter Uniform und immer so tat, als wäre er glücklich mit den Häppchen, die man ihm zuwarf — jetzt hat er sein Ziel erreicht. Und ich hab's immer schon gewusst, dass er das will, dachte Hansen, und jetzt hüstelt er, der Widerling, weil's ihm peinlich ist, diesem Streber, und ich steh da wie ein Ölgötze und lass mich abkanzeln und weiß auch genau wieso, die haben mich doch schon die ganze Zeit auf dem Kieker, und selber schuld bist du ja, du Trottel, hättest dich ein bisschen mehr anpassen müssen an die neue Zeit, aber dazu bist du wohl zu alt, Kommissar Hansen, was?

Diese Gedankenflut schoss ihm in Windeseile durch den Kopf, aber heraus bekam er nur die Frage: "Warum denn?"

Stallmann ging zwei Schritte auf ihn zu. "Sie hätten sich mehr den Idealen der nationalsozialistischen Verbrechensbekämpfung widmen sollen, Hansen. Das Herumdoktern an den Symptomen dieser Volksseuche ist nicht genug. Nirgendwo, schon gar nicht hier, wo die sittliche Gefährdung des Volkskörpers stets aufs Neue auf der Tagesordnung steht. Wir vermissen rigoroses Durchgreifen, Hansen. Vielleicht sind Sie ja nur zu alt und deshalb verweichlicht, könnte sein. Aber in die Partei sind Sie auch nicht eingetreten. Wir verlangen ja kein großes Opfer von Ihnen, nur einen deutliche Antwort auf die Frage, wo Sie stehen, und da haben wir keine Antwort von Ihnen erhalten, Kommissar Hansen, jedenfalls keine befriedigende. Sie sind oft genug aufgefordert worden, sich einzufügen. Sechs Jahre lang hatten Sie Zeit dazu. Jetzt müssen Sie die Konsequenzen tragen. Im Übrigen .... " Stallmann senkte die Stimme und lächelte scheinbar freundlich, " ... ist es in Ihrem Alter vielleicht sogar besser, zurück ins Glied zu treten, um jüngeren Kräften Platz zu machen."

Stallmann faltete einen Brief auseinander und hielt ihn ihm hin. "Hier ist die Anordnung, gültig ab sofort."

Hansen nahm den Zettel entgegen und schaute darauf. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Seine Lesebrille musste auf dem Schreibtisch liegen, auf seinem Schreibtisch, auf Kellings Schreibtisch...

"Kelling", kommandierte Stallmann, "Sie übernehmen ab sofort die Leitung der Wache!"

Kelling sprang auf, schlug die Hacken zusammen und rief: "Jawohl, Herr Inspektor."

Hansen seufzte. Jahrelang hatte er versucht, diesem Idioten das militärische Getue abzugewöhnen. Erfolglos offensichtlich. Und wie man sah, kam er doch weiter damit.

"Kommissar Hansen, Sie arbeiten ihren Nachfolger zügig ein."

"Mach ich, mach ich."

"Gut, dann ist also alles klar. Heil Hitler, meine Herren."

Kelling hob den Arm, Stallmann verschwand nach draußen, Kelling setzte sich wieder.

Hansen schaute ihn an. "Sie wollen das Büro hier, hm?"

Kelling nickte. "Natürlich. Sie werden nebenan zu Schenk ziehen."

"In die Veteranen-Abstellkammer." Hansen lachte auf.

"Ich möchte Sie bitten, auch weiterhin Ihrem Dienst gewissenhaft nachzugehen", sagte Kelling eisig. "Ihr neuer Dienstplan liegt nebenan. Sie dürfen übrigens bis auf Weiteres in ihrer Dienstwohnung bleiben."

"So? Sehr freundlich. Na, dann gute Nacht, Herr Oberwachtmeister."

Hansen machte kehrt und war kurz versucht, die Tür hinter sich zuzuknallen, aber dann ließ er sie einfach offen stehen.

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