robert brack

von chandler lernen
(und dem volke dienen)

Philip Marlowe - Der lächerliche Detektiv?

Ich gestehe, dass ich seit einiger Zeit - nachdem ich früher natürlich begeistert war - eine gewisse Aversion gegen Philip Marlowe und seinen Schöpfer kultiviert habe. Das hat verschiedene Gründe: Meine grundlegende Skepsis Marlowe gegenüber hat etwas zu tun mit meiner Ablehnung des Heldentums. Ich mag keine eindeutigen Helden. Die Protagonisten in meinen Büchern sind (bisher jedenfalls) durchweg Menschen, die für das Abenteuer nicht gemacht sind. Sie geraten in eine vertrackte Geschichte und müssen versuchen, sich daraus zu befreien, ohne allzu viele Blessuren davonzutragen. Das ist (oder war?) mein Konzept des Realismus: Darzustellen, wie eine Person wie du und ich auf eine außergewöhnliche Situation zu reagieren imstande ist, um die eigene Haut zu retten. Die wenigsten Menschen sind professionelle Intriganten, und wie man immer wieder im politischen Alltag sieht, sind selbst die Profis in diesem Geschäft nicht gerade perfekt.

In dieses "realistische" Konzept des literarischen Intrigen-Schmiedens, wo es vor allem darum geht, zu zeigen, welche fatalen Ausmaße die menschliche Gier und Niedertracht annehmen kann und welche unangenehmen Folgen das im Allgemeinen hat, in dieses Konzept passt der große Held nicht. Meine Protagonisten sind, wenn man es genauer betrachtet, allesamt Opfer. Und selbst wenn sie Profis sind, machen sie eine Menge Fehler und sind - wie wir alle - moralisch eher wankelmütig. Ich halte das für realistisch, denn einen wahren Helden habe ich noch nie kennengelernt.

"Privatdetektive sind kleine schmierige Existenzen, die es noch nicht einmal geschafft haben, Polizist zu werden."

Philip Marlowe hingegen ist ein solcher Held, der sich nicht für Geld, Macht oder Ideologien aufopfert, sondern für einige verschwommene individualistische Werte. Und das ist etwas, was ich eigentlich niemandem abnehme. Was hat der Mann davon, dass er sich andauernd eins über den Schädel knallen lässt? Ist er ein Masochist? Wieso gebärdet er sich als Quasi-Heiliger (man denke nur an sein pfaffenhaftes Verhältnis weiblichen Klienten gegenüber)? Diese Heiligkeit bzw. ultra-moralische Ritterlichkeit ist es, die mir lange Zeit an Philip Marlowe unangenehm aufgestoßen ist. Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich mit ihm gerne einen Abend in einer Kneipe verbringen würde. Wahrscheinlich würde Phil zuerst den oberschlauen Durchblicker und später (nach unzähligen Highballs) den weinerlichen Moralisten raushängen lassen.

Nun gut, in diese Verlegenheit werde ich wohl kaum kommen. Dennoch steht man als Kriminalschriftsteller vor dem großen Problem, sich einen Protagonisten aussuchen zu müssen. Viele Kollegen haben es sich relativ leicht gemacht und einen kleinen Bruder von Marlowe erfunden, der sich mehr schlecht als recht mit ähnlich moralinsauren Prinzipien durchs Leben schlägt. Ich mag diese Typen nicht, die ihren eigenen Mythos mit sich herumschleppen wie der Zuchthäusler die Kugel am Bein. Abgesehen davon kann ich nicht nachvollziehen, wie ein "anständiger" Privatdetektiv heutzutage überhaupt finanziell über die Runden kommen soll. Seine Klienten wie auch die Kriminellen würden sich kaputtlachen angesichts einer solchen Pose. Und in Deutschland, wo der amerikanische Ritterlichkeitsmythos (der zweifellos dem Western-Genre entsprungen ist) nirgendwo eine Berechtigung hat, macht sich meiner Meinung nach jeder Autor, der einen literarischen Privatdetektiv-Helden entwirft, lächerlich. Privatdetektive sind kleine schmierige Existenzen, die es noch nicht einmal geschafft haben, Polizist zu werden. Sie beschäftigen sich größtenteils damit, im Privatleben von fremden Leuten herumzuschnüffeln, Mülleimer zu durchsuchen und Fotos für eifersüchtige Ehemänner zu schießen. Sie kommen sich ungeheuer wichtig vor mit ihrem Funktelefon und brauchen wahrscheinlich drei Tage, um einen halbseitigen "Einsatz-Bericht" zusammenzulügen. Es gibt auch große Detektiv-Agenturen, manche arbeiten sogar für Politiker. Aber mit diesen Leuten ist es wie mit Geheimdienstlern: Es sind immer die Drittklassigen, die sich für einen solchen Job entscheiden. Wer nämlich nur halbwegs intelligent ist, der entscheidet sich für einen weniger schmierigen Beruf.

Man sieht also: Der Kriminalschriftsteller, der einen Helden sucht, hat ein echtes Problem, jedenfalls dann, wenn er kein Märchen, sondern eine halbwegs realistische Geschichte schreiben will.

The simple art of murder - today

Und schon sind wir bei der (teilweisen) Revision der obigen bitteren Erkenntnisse angelangt. Anlässlich der Preisverleihung und der Bitte, mir doch ein paar Sätze für einen kleinen Vortrag zu überlegen, war ich plötzlich gezwungen, mich mal wieder mit Raymond Chandler und seiner Position als Kriminalschriftsteller auseinanderzusetzen. Wenn man den "Marlowe" der "Raymond-Chandler-Gesellschaft" bekommt, sollte man sich natürlich ganz genau überlegen, was man sagt. Also las ich mal wieder in dem dicken Band mit den Chandler-Briefen. Und dann nahm ich mir nochmal das berühmte Essay "The Simple Art of Murder" vor. Ich muss gestehen, ich wurde sehr angenehm überrascht. Tatsächlich (und ist eigentlich irgend jemand außer mir sehr überrascht darüber?) stellt Chandler nicht wenige Thesen zur Kriminalliteratur auf, die ich noch immer für gültig halte.

Zum Beispiel:

• Im Kriminalroman darf der Autor kein falsches Spiel mit dem Leser treiben, d.h. ihn mit falschen oder übers Knie gebrochenen Fakten an der Nase herumführen oder eine falsche Logik heucheln, wie dies oft genug bei Agatha Christie und ihren Erben der Fall ist.

• Mord ist kein Gesellschaftsspiel. Morde werden nicht oder in den seltensten Fällen aus Spaß verübt. Wer mordet, hat ein Motiv, der Mörder unterhielt in den meisten Fällen eine Beziehung zum Opfer bzw. zu jemandem, der ihn anstiftete. Diese Beziehung zu erforschen ist die Aufgabe des Kriminalromans.

• Kriminalromane, in denen keine echten Charaktere auftreten, sind todlangweilig, sagt Ray: "Mir ist schon vor einiger Zeit klar geworden, dass die Langeweile, die von Kriminalromanen, wenigstens auf literarischer Ebene, großenteils ausgeht, ihren Grund darin hat, dass die Charaktere sich bereits nach dem ersten Drittel praktisch in Luft auflösen. Oft ist die Eröffnung, die mise-en-scène, die Hintergrundsanlage ausgezeichnet. Dann verdickt sich die Handlung, und die Leute werden zu bloßen Namen. ... Es fängt ... gut an, aber am Ende läuft alles im bekannten alten Trott."

• Man kennt Chandlers Lob in bezug auf Hammett: "Er hat den Mord aus der venezianischen Vase genommen und auf die Straße geworfen, wo er hingehört."

"Über diese Welt kann man in Verzweiflung geraten, aber man kann auch versuchen, sie mit Hilfe von Geschichten in den Griff zu bekommen."

Wenn man davon ausgeht, dass eine realistische Literatur - realistisch im weitesten Sinne - geben muss, die uns die Welt erzählt und damit, zumindest teilweise erklärt, weil uns oft genug die Erklärungen und Sinnzusammenhänge verloren gehen, dann muss man Chandlers Forderungen nach einem realistischen und also harten Kriminalroman zustimmen.

Am Ende seines Essays "The Simple Art of Murder" stellt Chandler einige Thesen auf, deren unveränderte Gültigkeit mich überrascht hat. Unter anderem:

• Der realistische Kriminalschriftsteller schreibt in einer Welt, in der Gangster Staaten regieren können, Städte kontrollieren, in der Verbrecher Immobilien und Firmen besitzen, Filmstars von der Mafia abhängig sind, wo man in teuren Hotels Syndikatsbosse als Geschäftsleute verkleidet trifft und sich abends nicht in bestimmte Straßen traut, weil es dort zu gefährlich ist. Das ist die Welt, in der die Justiz aus politischen Gründen das Recht beugt und in der man sich immer wieder wundert, wie wenig Geld ein Menschenleben wert ist. Über diese Welt kann man in Verzweiflung geraten, aber man kann auch versuchen, sie mit Hilfe von spannenden, vielleicht sogar witzigen Kriminalgeschichten in den Griff zu bekommen.

Kein Zweifel: Diese Welt, die Chandler beschrieben hat - und natürlich hatte er dabei das korrupte Amerika der 30er und 40er Jahre im Kopf - ähnelt inzwischen sehr stark unserer bundesdeutschen Gegenwart. Es wäre müßig, sämtliche politischen Skandale als Beweise aufzuführen. Auch ein kurzer Blick auf die Debatte über den Einfluss der Organisierten Kriminalität hierzulande und den sogenannten "Großen Lauschangriff" dürfte genügen. Das soziale Gefüge der westlichen Industriegesellschaft scheint auseinanderzubrechen. Egoismus, Machtgier, skrupelloses Profitstreben, Gewaltbereitschaft, Kriegsgewinnlertum in allen Variationen werden tagtäglich von den Medien thematisiert. Man spricht andauernd vom angeblichen "Werteverlust", unter dem wir alle neuerdings leiden sollen. Doch wenn man die oben zusammengefassten Gedanken von Chandler Revue passieren lässt, stellt man fest: Das alles ist nicht neu, vielmehr scheint die vielbeschworene Krise des zivilisierten Zusammenlebens keine besonders neue Errungenschaft der Menschheit zu sein.

Nun gut, diese Erkenntnis hat mich nicht gerade überrascht. Was mich allerdings sehr wohl überrascht hat, war dies: Der ritterliche Detektiv ist mir plötzlich wieder sympathisch geworden. Ich gebe zu, dass mir dabei nicht ganz wohl in meiner Haut ist, aber dennoch führt kein Weg daran vorbei:

Philip Marlowe muß rehabilitiert werden!

Hätte ich mich öfters mal mit Chandlers grundsätzlichen Gedanken zu seinem Werk und seinem Helden beschäftigt, wäre ich vielleicht schon früher drauf gekommen oder hätte mir womöglich einige halbwegs schwachsinnige Thesen (siehe Punkt 1) erspart. Das Essay "The Simple Art of Murder" endet nämlich mit einigen sehr interessanten Gedanken zum Thema "ritterlicher Held", und die haben mir dann auf einmal doch gefallen. Nachdem Ray also jene "mean streets" beschrieben hat, die unseren heutigen Straßen (zumindest in der Großstadt, und was ist schon ein Kriminalroman ohne Großstadt?) so sehr ähneln, zeigt er uns (mit einer Spur zuviel Pathos, die ich ihm aber überhaupt nicht übel nehmen möchte) jenen einzigen Mann, der dafür geschaffen ist, gegen diesen Sumpf aus Gewalt und Korruption aufzubegehren:

• "Er ist weder trübsinnig noch ängstlich. Er ist ein Held, er ist alles. Er muss ein gestandener Mann sein und ein Mann von der Straße, gleichzeitig aber außergewöhnlich. Er muss ein Mann mit Ehre sein, aber einen Ehrbegriff verkörpern, der aus seinem Gefühlsleben erwächst. Er muß der beste Mann in dieser Welt sein und ein guter Mann für jede andere Welt."

• "Die Geschichte dieses Mannes ist die abenteuerliche Suche nach der versteckten Wahrheit, und sie wäre nicht abenteuerlich, wenn dieser Mann nicht fürs Abenteuer geboren wäre."

• "Wenn es genug solche Männer gäbe, wäre die Welt sicherlich ein sehr sicherer Ort zum Leben, und bestimmt nicht so langweilig, dass sich das Leben nicht lohnen würde."

Nachdem ich diese Ausführungen gelesen hatte, wurde mir, dem typischen kaltschnäuzigen Zyniker am Ende dieses Jahrhunderts, doch wehmütig ums Herz. Plötzlich hatte ich dieses deutliche Gefühl, dass wir in der Tat einen ganzen Haufen Philip Marlowes heutzutage gebrauchen könnten. Ich meine damit nicht solche Typen, die großkotzig herumstreunen und glauben, nur weil sie sich Privatdetektiv nennen, hätten sie das Recht, jeden anzupflaumen oder gar zusammenzuschlagen. Ich meine einen Menschen - und warum soll es nicht auch eine Frau sein? - der uns anhand seines Verhaltens in gefährlichen Situationen zeigen kann, dass es in dieser Gesellschaft jenseits des Geldes und der Macht vielleicht doch noch irgend etwas von Wert gibt. Und dass es sich vielleicht doch lohnt, für einen solchen Wert zu kämpfen.

Allerdings bin ich mir momentan nicht ganz sicher, ob und wo wir einen solchen Wert finden können ... Aber das ist auf jeden Fall schon mal ein gutes Thema für ein paar Dutzend Kriminalromane.

Vortrag, gehalten am 24. Juli 1993 im Rahmen der Chandler-Tage in Ulm

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