robert brack

produktive paranoia oder:
danksagung an die drei karls

Möglicherweise hätte ich nie mit dem Schreiben von Kriminalromanen begonnen, wenn es nicht "die drei Karls" gegeben hätte. Die drei Karls haben mir beigebracht, die Welt mit dem Blick des Erzählers und Analytikers zu betrachten. Zunächst von der anderen Seite her, nämlich als Leser, dem die Welt erklärt wird (der Leser liest und erzählt sich im Kopf die Geschichte, die ihm jemand geschrieben hat, noch einmal auf seine eigene Art). Später als Erzähler, der sich selbst und den Lesern die Welt erzählt (also auf "seine" Art erklärt, wobei es - zum Glück - nicht darauf ankommt, ob es wahr ist).

Die drei Karls waren (in der Reihenfolge ihres Auftretens): Carl Barks, Karl May und Karl Marx. Carl Barks hat mir beigebracht, wie man eine völlig unglaubwürdige Welt (Entenhausen) so glaubhaft darstellen kann, dass man das Gefühl hat, man wäre wirklich da gewesen. Karl May hat mir bewiesen, dass die Welt ein Abenteuerspielplatz ist und dass es sich lohnt (also Spaß macht), diesen Spielplatz erzählerisch zu erobern. Karl Marx konnte vielleicht nicht so gut erzählen (Friedrich Engels war da besser), aber seine Art, die Mechanismen und Kräfte zu analysieren, die die Gesellschaft antreiben (und damit den Einzelnen), hat mir gezeigt, dass die gesamte menschliche Geschichte ein Abenteuer ist.

Deshalb schreibe ich Abenteuer-Romane. Alle sagen "Krimi" dazu und wenn man mal darüber nachdenkt, heißt das doch, dass das Abenteuer in unserer Welt grundsätzlich kriminell ist. Wer etwas erleben will, steht mit einem Bein im Knast. Kriminal-Literatur ist Abenteuer-Literatur, egal ob ein Mord in einem englischen Landhaus (Butler zerstückelt in Ming-Vase), in einer dreckigen Straße im Rotlicht-Bezirk (Nutte zerstückelt in Gully) oder der Chef-Etage des Polit-Klüngels (Kanzler zerstückelt in 23 Aktenkoffern) stattfindet. Es muss nicht mal ein Mord sein, eine Verschwörung genügt. Denn allen vernünftelnden Schlaubergern zum Trotz ist unsere Welt ein Paradies der Verschwörer.

"An nichts glauben und
trotzdem seinen Spass haben,
ist nicht ganz einfach."

Oder, um mal ein bisschen philosophisch zu werden: Der ganze Kosmos scheint mir eine gigantische Verschwörung zu sein. Ich würde gerne herausfinden, wer oder was dahinter steckt. Da mir momentan jedoch die finanziellen und logistischen Mittel für Raum- und Zeitreisen fehlen, bemühe ich mich mit beiden Beinen auf dem Planeten zu bleiben, um fürs Erste hier zu erkunden, was los ist. Vor allem lese ich, bevor ich mit dem Schreiben anfange. Neben den drei Karls haben mir Eric Ambler, Ross Thomas und Jean-Patrick Manchette gezeigt, wie man produktiv paranoid wird. Wie diese drei Polit-Thriller-Autoren bemühe auch ich mich, in einen Zustand fortgeschrittener Verschwörungssucht zu kommen. Ich habe nämlich keine Lust, eines Tages fassungslos zu staunen, wenn plötzlich eine Ladung Plutonium in einer Genfer Hotelbadewanne auftaucht. Und ich will schon gar nicht all das glauben, was mir die eifrigen Welterklärer aus Journalismus und Politik an selbst- und fremdgekochtem Lügen-Eintopf vorsetzen.

An nichts glauben und trotzdem seinen Spaß haben, ist nicht ganz einfach. Eben deshalb gibt es Krimis oder Thriller oder Abenteuer-Romane - wie auch immer man das nennen will. Den größten Spaß hat ein Autor, wenn er selbst zum Verschwörer wird. Was wohl das wahre Ziel aller Thriller-Autoren sein dürfte: "Kompetenter Krimineller" (Eric Ambler), genialer Aufklärer und Theoretiker der Macht in einem zu sein. Eine perfekt organisierte Verschwörung zu organisieren mit dem Ziel, sich selbst als ungreifbaren Dr. Mabuse, als Autokraten von eigenen Gnaden, der immer recht behält, einzusetzen. Der Schriftsteller beherrscht einen Kosmos, den er selbst gebaut hat (zumindest so lange, bis der Kosmos eine gewisse Eigendynamik entwickelt).

Das Arbeitsprinzip eines solchen Größenwahnsinnigen ist einfach, aber aufwändig: Ich sammle Material, indem ich die Augen offen halte und notiere. Manchmal trifft man eine interessante Figur auf der Straße, die man sich aneignen kann: einen Taschendieb in der S-Bahn, einen kriminellen Schuldeneintreiber auf dem Kiez, einen indischen Imbissbudenbesitzer mit Erotik-Film-Ambitionen in Ost-Berlin. Oder in Büros: einen vor Zynismus krank gewordenen Verlagsleiter, den wackeren Change Manager einer Ölfirma, einen Werbefuzzi, der glaubt, unsere Gehirne beherrschen zu können. Oder in der Zeitung: ein russischer General, der unsterblich werden möchte, ein australischer Medienmogul, der die Welt beherrschen will, ein Ex-Spion, der sein Geld angeblich nur noch mit Kochbüchern verdient. Oder im Fernsehen: ein Geheimdienst-Koordinator lässt eine halbe Atombombe einfliegen, ein Ministerpräsident lässt sie in einer Hotelbadewanne liegen, ein serbischer General nimmt sie mit nach Hause, weil er sie noch gebrauchen kann ...

"Hinter allem
steckt immer mindestens
eine Verschwörung."

Ich sammle Zeitungsausschnitte wie ein Besessener. Aber Fakten, Fakten, Fakten allein genügen nicht, wenn man sie nicht in den richtigen Zusammenhang stellt. Erkenntnisinteresse: Hinter allem steckt immer mindestens eine Verschwörung von jemandem, der an die Macht will und eine andere Verschwörung von jemandem, der sich die Macht erhalten will. Meist ist noch eine dritte Partei dabei. Sich allmählich an die Wahrheit heranzuspekulieren, ist eine spannende Sache. (Wer sich nur mit den nötigsten Informationen versorgen will, liest für die Innenpolitik die "Süddeutsche Zeitung" und für internationale Zusammenhänge die "Herald Tribune" - und denkt hoffentlich immer daran, dass die "unabhängigen" Journalisten auch nur Figuren im Großen Spiel sind).

Wenn ich dann ganz viel Material gesammelt habe - sagen wir mal über die nigerianische Mafia, die mit tatkräftiger Unterstützung der deutscher Banken dumme Unternehmer auf der ganzen Welt um Millionenbeträge erleichtert -  beginne ich, das Material zu missbrauchen. Ich denke mir eine Verschwörung aus, die wie die der Nigerianer funktioniert, aber ich verlege sie nach, sagen wir mal, Rumänien. Plötzlich sind nicht mehr Afrikaner, sondern Securitate-Agenten am Werk. Und diese Typen haben aus Versehen einen größenwahnsinnigen Medienmogul um ein paar Millionen erleichtert. Der Mogul ist aber sehr nachtragend und hat gute Verbindungen zu Mafia-Kreisen, die ihm noch einen Gefallen schulden. Das Duell geht los ... Und dann wären da noch meine Helden, die fünf anarchistischen Söldner vom "Gangsterbüro", die der Securitate einen gestohlenen Microchip abjagen sollen, der die weltweite Telekommunikation revolutionieren könnte ...

Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Als Faustregel gilt: Wer erklären will, wie es zugeht in der Welt, muss maßlos übertreiben. Sonst wird die Fiktion schon im nächsten Moment von der Wirklichkeit überholt. Und wenn man mal so richtig übers Ziel hinausgeschossen ist - aus Spaß am Polieren liebgewonnener Klischees und dem Erfinden absurder Tatsachen -  hat das den schönen Effekt, dass der Roman sich der wesentlich skrupelloseren Ästhetik der Comics nähert. Das ist immer ein Gewinn, denn Comics sind ja bekanntlich Kunst.

erschienen in: "Reddition / Zeitschrift für graphische Literatur", Nr. 27, 1996

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