lenina kämpft

leseprobe

lenina kämpft

Das Buch erschien im Februar 2003 in der Edition Nautilus.
Broschur 192 Seiten / ISBN 3-89401-408-3
Euro (D) 12,90 / sFr 22,70
Bücher von Robert Brack online bestellen bei [ amazon.de ]

Zurück zu den [ büchern ]

null

In der Schublade seines Schreibtischs fand ich die Pistole. Stopp! Ich will mich ja präzise ausdrücken, habe ich mir vorgenommen: den Revolver.

Er sah genau so aus wie die Schusswaffen in amerikanischen Kriminalfilmen. Allerdings fand ich den Namen seltsam, der in das verchromte Metall an der Stelle zwischen Lauf und Trommel eingeprägt war: Arminius. Darunter zwei Buchstaben und eine Zahl: HW 5. Ich fummelte neugierig daran herum, betätigte den seitlichen Schiebeknopf und schwenkte die Trommel aus. Acht Patronen passten hinein.

Ich griff nach der Schachtel mit der Aufschrift "Kaliber .22 L.R." und ließ sie wieder fallen. Ich spürte einen Kloß im Hals, legte das schwere Ding auf den Filzlappen in die Schublade zurück und deckte es zu.

Der Idiot! Eine sinnlosere Anschaffung als diesen Revolver konnte ich mir im Moment kaum vorstellen. Ich schluchzte ein bisschen vor mich hin, wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln und ließ meinen Blick über die riesige Wandkarte gleiten. Ich erinnerte mich noch genau, wie wir diese alte Schulkarte zusammen auf dem Flohmarkt gekauft hatten. Sie hatte nur zwanzig Mark gekostet, war ziemlich verknittert und roch muffig wie gammeliges Leder. Ich fand sie hässlich, aber er war begeistert und hängte sie sich ins Büro.

"Wenn du mal genau hinguckst, siehst du, dass Kanada viel größer ist als die Vereinigten Staaten."

"Dazu muss ich nicht genau hingucken, das hab ich in der Schule gelernt."

"Und hier ist übrigens der Athabasca-River."

"Ja, ich weiß."

"Und der Athabasca-See."

"Ja, okay."

Er war verdammt stolz auf seine alte Wandkarte.

Was mach ich jetzt mit dem Revolver?

Stopp! Noch mal von vorn. Ich will ja genau beschreiben, wie alles gewesen ist. Angefangen hat diese ganze grässliche Geschichte an einem Dienstagabend im Espace. Das ist eine dieser angesagten Bars in einer Seitenstraße der Reeperbahn. Da wo die Nutten rumstehen, Entschuldigung, die Huren, wie sie sich selbst nennen. Normalerweise gehe ich da nicht hin. Weder da hin, noch in andere angesagte Bars. Aber an diesem Abend hat mich Annie, meine beste Freundin, dort hingeschleppt.

Das Espace war wild dekoriert und sah aus, als wäre für immer Weihnachten. Viele bunte Lichter und Leuchten und Girlanden und Kitsch und Nippes und Schrott hingen und standen in allen Ecken herum, und Leute, die eigentlich älter waren als wir, scharten sich um den Tresen.

Annie wollte unbedingt ins Espace, weil an diesem Abend ein Typ, den sie anhimmelte, dort Platten auflegte. Der Typ war gut zehn Jahre älter als sie und hatte eine perfekte Art, über sie hinweg, an ihr vorbei oder durch sie hindurch zu sehen. Dabei müsste jeder Idiot auf sie fliegen, denn mit ihren langen dunklen Haaren und dem melancholischen Blick ist sie eine wirkliche Schönheit. Wenn Susi nicht rechtzeitig gekommen wäre, hätte Annie sich wahrscheinlich sinnlos betrunken. Aber die blonde Susi kam, hellte mit ihrem süßen Lächeln Annies düstere Stimmung auf, und die beiden konnten sich über ihre Lieblingsthemen unterhalten: Männer, die mich nicht interessierten und Musik, von der ich nicht den blassesten Schimmer hatte; und darüber, wie sie mich bekehren könnten.

Ihr Musikgeschmack war das Nervthema, und ich wollte schon gehen, als sie mich in die Zange nahmen.

Susi holte ein rosa Döschen aus ihrem nostalgischen Hirtentäschchen heraus, klappte es auf und zeigte auf die drei blauen Pillen, die darin lagen: "Für jede von uns eine", sagte sie und hielt mir die Dose unter die Nase.

"Nein, danke", sagte ich. Wie immer.

Annie hingegen hatte schon die Hand erhoben. Sie gierte nach Rausch.

"Wenn du erstmal so einen kleinen Glücksbringer intus hast, wirst du diese Musik lieben."

"Musik? Welche Musik?"

"Zorch", sagte Susi.

"Das ist nicht Zorch, das ist Cipher", sagte Annie und nahm sich eine Pille. "Zorch hat kein Saxophon."

Susi kniff die Augen zusammen: "Erstens sind Zorch zu zweit und zweitens ist dieses Saxophon gesampelt."

"Das soll gesampelt sein? Quatsch." Annie legte sich die Pille auf die Zungenspitze.

"Was meinst du?" wandte sich Susi an mich.

"Gesampelt oder nicht", sagte ich. "Ich finde diese Musik melodisch und harmonisch recht bescheiden, vom monotonen Rhythmus gar nicht zu reden. Die Ostinato-Figur im Bass klingt nach defektem Presslufthammer."

Annie schluckte die Pille und grinste mich an: "Lenina, du bist eine arrogante Zicke."

"Wenn ihr meine Meinung hören wollt, sag ich euch meine Meinung."

Susi warf mit einer Kopfbewegung ihre blonden Locken zurück, was bedeutete, dass sie sauer war. Wieder hielt sie mir die Dose hin: "Willst du nun?"

Ich schüttelte den Kopf. Sie nahm sich eine Pille, schluckte sie und drehte sich um. Dann ging sie zum DJ-Pult und hielt dem Supertypen die Dose hin. Der lachte und nahm die Pille. Er beugte sich über seine Anlage und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie flüsterte ihm was ins Ohr, er flüsterte ihr was ins Ohr. Ich blickte zu Annie. Sie war wie vom Donner gerührt.

Susi kam zurück und erklärte triumphierend: "Es ist Zorch."

Annie winkte dem Barkeeper zu und deutete mit Daumen und Zeigefinger die Größe des Glases an, dann zeigte sie auf eine Flasche. Jetzt ging das mit dem Tequila doch noch los.

"Und gleich kommt Cipher."

Als es soweit war, konnte ich keinen Unterschied feststellen.

Und dann, als Annie und Susi gerade anfingen sich zu streiten, weil Annie sich über das Honeybee-Motiv auf Susis T-Shirt lustig machte, stand plötzlich dieser Kerl in der Lederjacke neben mir. Stoppelkopf, Skinheadtyp, aber irgendwie amtlich.

"Frau Rabe?"

Ich drehte mich um und sah zu ihm hoch: "Ja?"

"Kommen Sie bitte mit."

Der Typ legte eine Hand auf meinen Unterarm.

"Wer sind Sie denn?"

"Zollfahndung."

"Scheiße. Okay, ich komm mit."

Annie und Susi starrten mich völlig verstört an. Ein zweiter Lederjackentyp tauchte neben dem ersten auf. Susi stopfte hastig das rosa Döschen in die Tasche ihrer superengen Hüfthose.

"Zollfahndung?" fragte Annie empört. "Soll das ein Witz sein?"

"Sie dürfen Ihr Getränk noch austrinken", sagte der Typ und deutete auf das Tequila-Glas, das Annie mir aufgeschwatzt hatte. Ich kippte es runter. Schmeckte nach Flugzeugbenzin.

"Geh nicht", sagte Susi. "Du musst nicht."

Ich schaute den Typen an, der immer noch seine Hand auf meinem Unterarm hatte. Er sah nicht aus, als würde er hier einen Witz machen.

"Ich komme", sagte ich.

"Bist du bescheuert?" rief Annie. "Du hast dir nicht mal seinen Ausweis zeigen lassen."

Der Typ zog einen Ausweis aus der Jeanstasche und hielt ihn ihr hin.

"Trotzdem", sagte Annie. "Sie hat nix mit Drogen ... " Dann wusste sie nicht mehr weiter.

Kaum hatte sie den Ausweis gesehen, ging Susi zwei Schritte zurück und stieß gegen den Tresen.

"Wir telefonieren", sagte ich zu Annie.

"Du musst nicht mit", versuchte sie es nochmal. "Er hat keinen Durchsuchungsbefehl."

"Du meinst Haftbefehl."

"Ist doch egal."

"Wir telefonieren, okay", wiederholte ich und drehte mich um.

Beim Hinausgehen spürte ich einige verblüffte Blicke. Aber die meisten Gäste des Espace bemerkten nichts oder wollten nichts bemerken.

Draußen in der schmalen Straße, auf der sich im bunten Schein der lasziven Leuchtreklamen Nachtschwärmer an nicht ausgelasteten Prostituierten vorbeidrängten, stand ein VW Golf. Auf dem Dach blinkte ein Blaulicht und bewirkte, dass alle Leute einen Bogen um den Wagen machten. Ein paar nur halb angezogene Mädels in meinem Alter sahen mich mitleidig an, als mir der eine Fahnder die Tür aufhielt. Ich stieg ein und machte es mir auf dem Rücksitz bequem. Die beiden Lederjacken-Typen setzten sich nach vorn, der Fahrer verstaute das Blaulicht unter seinem Sitz und startete den Motor.

Der Beifahrer drehte sich zu mir um. Für einen Bullen machte er einen halbwegs sympathischen Eindruck. Musste so Mitte zwanzig sein. Die Stoppelhaare standen ihm gar nicht schlecht. Er war natürlich kein Skinhead, aber irgendwie germanisch sah er schon aus. Hellblond und blauäugig. Ziemlich durchtrainiert. Besuchte garantiert das Fitness-Studio. Er verzog das Gesicht und sagte: "Meine Name ist Martin Weigel, Zollinspektor. Das hier ist mein Kollege Erik Stöber."

"Zollsekretär", ergänzte der Kollege, der einen etwas schlapperen Eindruck machte und einen Bierbauch hatte. Er manövrierte den Wagen vorsichtig durch die enge Kiezstraße.

"Tut mir Leid, dass wir Sie einfach so da rausholen mussten", sagte der Blonde.

"Ist schon okay", sagte ich. "Es geht um meinen Vater, stimmt's?"

Zollinspektor Martin Weigel sah mich erstaunt an: "Ja."

Sein Kollege lenkte den Golf auf die Davidstraße. Martin Weigel musterte mich unentschlossen.

"Ich nehme an, er hat sich mal wieder in irgendwas reingeritten", sagte ich. "Was muss ich tun?"

"Ihn identifizieren."

"Das werde ich schon irgendwie hinkriegen."

"Sag das nicht, Mädel", brummte der Fahrer. "Sie haben ihn aus dem Hafenbecken gezogen."

Die Ampel an der Ecke zur Reeperbahn schlug auf Grün um. Stöber gab Gas und bog mit quietschenden Reifen ab.

Ich kippte um, blieb auf dem Rücksitz liegen und starrte durch die Scheibe hinaus auf die vorbeiflitzenden bunten Lichter, die immer unschärfer wurden, verschwammen, und dann schloss ich die Augen.

zurück zu den [ büchern ]
zurück zum [seitenanfang]